Vom Buddhismus lernen: Achtsamkeit in der Erziehung
Der buddhistische Ansatz der Achtsamkeit findet immer mehr Resonanz in der westlichen Welt. In Seminaren lernen Menschen, den Augenblick zu geniessen. Auch in der Erziehung hat die Achtsamkeit Einzug gehalten. Mit gutem Grund.
Viele Eltern beklagen sich, dass ihre Kinder so schnell gross geworden sind. Manche bedauern, die Entwicklung des Nachwuchses nicht intensiv genug begleitet zu haben. Dabei klingt der Ansatz der Achtsamkeit in der Theorie so einfach: Kinder bewusst wahrnehmen bedeutet, achtsam mit ihnen zu leben, in vielen Augenblicken ihres Lebens.
Einfacher Ansatz mit weitreichenden Folgen
Achtsamkeit spielt in der buddhistischen Lehre eine zentrale Rolle. Einer, der den Begriff der Achtsamkeit in der westlichen Welt bekannt machte, ist Thich Nhat Hanh, einer der profiliertesten zeitgenössischen Meister der buddhistischen Lehre. «Achtsamkeit bedeutet nichts anderes, als sich dessen bewusst zu sein, was im gegenwärtigen Moment geschieht», erklärt er in seinem Buch «Sei liebevoll umarmt. Achtsam leben jeden Tag».
Der Ansatz ist schlicht, die Folgen für den, der ihn lebt, sind dagegen weitreichend. Denn wer dem Augenblick bewusst Aufmerksamkeit schenkt, gewinnt Präsenz und erlebt das Leben. Und wer in der Gegenwart den Kindern Aufmerksamkeit schenkt, erlebt seine Kinder. «Unsere Verabredung mit dem Leben findet im gegenwärtigen Augenblick statt, und der Treffpunkt ist genau da, wo wir uns gerade befinden», soll Buddha einst gesagt haben.
Achtsamkeits-Übung
Der Schlüssel dieser Achtsamkeitsübung liegt im Atmen, im ganz bewussten Ein- und Ausatmen. «Wir nennen dies ‹Atembeobachtung› oder ‹bewusstes Atmen›», so das European Institute of Applied Buddhism.
Und so geht's:
Atmen Sie tief ein und wieder aus. Versuchen Sie, dabei zu spüren, wie die Luft Ihre Lungen füllt und Ihren Körper belebt.
Zum Atmen sprechen Sie folgende Sätze:
- Einatmend bin ich mir meiner Einatmung bewusst.
- Ausatmend bin ich mir meiner Ausatmung bewusst.
«Wenn Du einatmest und dabei weisst, dass Du einatmest, stellst du innerhalb weniger Sekunden die Einheit von Körper und Geist wieder her», sagt dazu Thich Nhat Hanh.
Achtsamkeit mit Kindern leben
Wer mit seinen Kindern achtsam umgeht, nimmt sie vorurteilsfrei wahr. Er schaut sie an und er hört ihnen zu, ohne ihr Verhalten zu bewerten. So lässt sich Nähe herstellen und gegenseitiger Respekt vermitteln.
Kinder fühlen sich angenommen, so wie sie sind, verstanden und geborgen. Das gibt der Eltern-Kind-Beziehung eine besondere Tiefe. «Wenn Sie Ihr Kind ganz unvoreingenommen sehen können, wird sich Ihnen ein kleines Wunder offenbaren», erklären Lienhard Valentin und Petra Kunze, Autoren des Buches «Die Kunst, gelassen zu erziehen». «Denn es trägt einen grossen Schatz in sich, in der buddhistischen Lehre das ‹grundlegende Gutsein› genannt.»
Zu viel Stress für Achtsamkeit?
«Gegenwärtig sein», diese Aufforderung klingt im Tumult des Alltags, als sei sie kaum zu bewältigen. Viele Eltern würden gern ihren Kindern mehr Aufmerksamkeit schenken, doch oft scheint es wichtig, dass erst noch dies und jenes erledigt wird. Längst ist Multitasking vielen Menschen zur Routine geworden. Während die Mutter die Spülmaschine ausräumt, erklärt sie zerstreut ihrem Sohn, warum «3 mal 8» 24 und nicht 25 ergibt, obwohl sie eigentlich über den Einkaufzettel nachdenkt. Vätern ergeht es nicht anders.
Doch Achtsamkeit, wie sie im Buddhismus verstanden wird, ist keine zusätzliche Aufgabe, sondern ein Geschenk. Hier muss nicht mühsam gesucht, sondern es darf gefunden werden. Erfüllung, Gelassenheit und Authenzität sind das, was Achtsamkeit gibt. Es geht nicht darum, dem Augenblick noch mehr abzuverlangen, sondern zu begreifen, was er uns von ganz alleine schenkt.
Mit Kindern den Augenblick erleben
Natürlich muss das Frühstück am Morgen gemacht, dem Kleinkind die Hände gewaschen, der Geschirrspüler ausgeräumt und die Wäsche gewaschen werden. All das lässt sich aber auch bewusst erleben, gerade mit Kindern. Statt sich zu beeilen, in der irrigen Meinung, das Leben beginne erst am Feierabend, gilt es zu begreifen, dass das Leben jetzt und hier stattfindet.
In diesem Punkt sind Kinder den Erwachsenen einen Schritt voraus: sie leben im Hier und Jetzt, quasi von natur aus achtsam. Sie staunen über die Wolken am Himmel, freuen sich über die Punkte des Marienkäfers, rühren selbstversunken mit einem Stock in einer Pfütze herum. Eltern sollten Kindern diese Präsenz des Augenblickes lassen, ohne zu stören. Etwas Besonderes ist es, wenn man diese Augenblicke bewusst gemeinsam mit dem Kind erleben kann.
Alltägliches neu erleben durch Achtsamkeit
So lassen sich viele Aufgaben lustvoll und mit Spass zusammen mit Kindern gestalten, wenn dem gegenwärtigen Erleben nachgespürt wird. Schmecken die Rosinen oder die getrockneten Äpfel im Müsli süsser? Welche Geräusche sind beim Frühstück zu hören? Ist das Wasser beim Händewaschen kalt oder warm? Wonach riecht die Seife?
Eltern können ihre Kinder ermuntern, ihnen ihre Freude oder ihren Ärger zu beschreiben, je nachdem, wovon sie gerade erfüllt sind. Tiefe Erlebnisse bestehen darin, gemeinsam in die Stille zu lauschen, sich gegenseitig die Gedanken zu erzählen oder sich auf den Körper zu konzentrieren: Wie fühlt er sich an? All das macht nicht nur lebendig, sondern auch dankbar – für das Essen, für das Wasser, für die Geräusche um uns herum.
Kindern Achtsamkeit vorleben
Nur wer achtsam mit sich selbst umgeht, kann auch achtsam mit anderen umgehen, lautet denn auch ein Grundsatz in der buddhistischen Lehre. Eigene Bedürfnisse zurückzustecken ist der falsche Weg. Eltern dürfen ihre eigenen Bedürfnisse durchaus angemessen zur Geltung bringen. «Wenn wir keinen inneren Frieden haben, wenn wir uns nicht wohl in unserer Haut fühlen, können wir unsere Kinder nicht wirklich gut erziehen», sagte einst Thich Nhat Hanh. «Wenn wir gut für unsere Kinder sorgen wollen, müssen wir gut für uns selber sorgen.»
Achtsamkeit: Ein Geschenk fürs Leben
Wer achtsam mit sich und anderen umgeht, macht seinen Kindern ein Geschenk fürs Leben. Weil Kinder sich an Vorbildern orientieren, bleiben sie achtsam. Sie bewahren sich den Bezug zum Hier und Jetzt ein Leben lang.
Das macht glücklich. Denn wer mit seiner Aufmerksamkeit in der Gegenwart bleibt, spart sich nicht nur den Stress der Zukunftssorgen, sondern findet das Glück in den kleinen gegenwärtigen Dingen des Alltags. Nur hier, im Augenblick, ist Glück möglich. Und nur hier, im Jetzt, lassen sich die Weichen für eine glückliche Zukunft stellen. «Die beste Art und Weise, für die Zukunft zu sorgen, ist die, für die Gegenwart zu sorgen», sagt Thich Nhat Hanh. Und deshalb kommt er zu dem Schluss: «Zu erziehen heisst, ein Vorbild zu sein – ein Vorbild im Glücklichsein.»
Weiterführende Links
Webseite des Mindfulness-Based Stress Reduction-Verbandes (MBSR): Berufsverband der Lehrerinnen und Lehrer für Stressbewältigung durch Achtsamkeit.
Meditation für Kinder: Kadampa Meditationszentrum Schweiz