Teil 4 - Erziehung ohne Strafen: Wie wir einen persönlichen Lebensstil entwickeln
Das individualpsychologische Wort «Lebensstil» meint das Ergebnis der Erfahrungen und der gefällten Entscheidungen unserer Kindheit. Hier erfahren Sie, wie unser Lebensstil die Art und Weise wie wir unsere Kinder erziehen, beeinflusst. Je besser man sich seinen Lebensstilmustern bewusst ist, desto wertfreier wird der Umgang mit den Kindern.
Im Alter von fünf bis sieben Jahren ist der Lebensstil in der Regel gefunden und bildet die Matrix unseres weiteren Lebens. Der einmal gebildete Lebensstil ist nicht ablegbar, sehr wohl aber lebenslänglich form-, veränderbar.
Wie sehe ich mich? Wie sehe ich die anderen? Wie sehe ich die Welt? Vom Moment der Geburt ist ein jeder Mensch in seiner Ganzheit, physisch und psychisch herausgefordert sich diesen Fragen zu stellen.
- Der Lebensstil ist die einem jeden Menschen innewohnende ureigene Lebensmelodie
- Lebensstil ist die subjektiv beste Art die eigenen Ziele zu erreichen. Er ist nicht gut oder schlecht, er ist immer funktional.
- Jeder Lebensstil beinhaltet Einschränkungen genauso wie Ressourcen.
Je besser man sich seinen eigenen Lebensstilmustern bewusst ist, desto selbstsicherer und wertfreier wird der Umgang mit sich und den eigenen Kindern.
Soziale Faktoren, die die Melodie des Lebens eines jeden Einzelnen prägen
Eine wichtige Rolle spielen verschiedene soziale Faktoren, da sie die Entwicklung des Lebensstils massgeblich beeinflussen. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit um sich eingehender mit diesen Faktoren, in Bezug auf Ihren eignen Lebensstil auseinander zu setzen:
1. Geschwisterkonstellation
Sind Sie ein Einzelkind? Sind Sie der/die Erstgeborene? Sind Sie ein mittleres Kind oder der/die Jüngste?
Wenn Sie sich mit Menschen, die in derselben Konstellation geboren wurden wie Sie, austauschen, dann werden Sie feststellen, dass es grosse Gemeinsamkeiten gibt. Alle Erstgeborenen zum Beispiel haben durch die Geburt ihres Geschwisters die Erfahrung des «Entthrontwerdens» gemacht. Viele kennen Themen wie: Verantwortung übernehmen, vernünftig sein, den Weg bahnen. Themen, die sich zu Lebensstilmustern formen, die unser Erleben bis zum heutigen Tag prägen.
2. Einschneidende Erlebnisse
Haben Sie als Kind unter einer schweren Krankheit gelitten oder einer der Familienangehörigen? Ist jemand Nahestehender gestorben? Haben sich die Eltern getrennt? Sie sind Sie einmal (zu) oft umgezogen? Hatten Sie einen Unfall? Mussten Sie für einen Zeitraum weg von zuhause? (Je nach Migrationshintergrund gehören hier noch viel heftigere Erlebnisse dazu wie Krieg, Hunger, sich verstecken, flüchten müssen, Zeuge sein von Gewalt, Sterben etc.)
Wie haben Sie als Kind diese einschneidenden Erlebnisse erlebt, verarbeiten können? Wie gehen Sie heute, als erwachsener Mensch mit Krisensituationen um?
3. Soziale Stellung/Religion/Kultur
In welchen kulturellen Kontext sind Sie hineingeboren worden? Was für einen Einfluss hatte das religiöse Selbstverständnis der Eltern und deren Umfeld auf Sie als Kind? Wie war die soziale Stellung Ihrer Familie innerhalb der Gesellschaft? War es eine angesehene Familie? Was hatte Ihre Familie für einen Ruf? Lebte man in Armut oder in Wohlstand? Waren Religion, kulturelle Traditionen, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht zu gehören, ein wichtiges Thema, das Ihren Alltag prägte?
4. Soziales Umfeld
Wer waren, neben der Mutter, Ihre Bezugspersonen? Gab es einen Vater? War er präsent? Wie wichtig waren Grosseltern, Tanten, Onkel, Gotti, Götti oder auch Nachbarn? Andere ältere Kinder oder Jugendliche? Inwiefern waren öffentliche Personen einflussreich in Ihrer Familie, wie zum Beispiel der Pfarrer, die Lehrerin, der Hausarzt?
5. Familienwerte
Was, würden Sie sagen war das Motto Ihrer Familie? «Es ist wichtig, was andere von uns denken.», «Gott wird es schon richten.», «Wer unermüdlich fleissig ist, der wird belohnt.», «Nur wer was leistet, ist was wert.», «Zusammen Zeit verbringen können – das ist wahrer Luxus.», «Wir sind stolze Menschen»... um nur ein paar Beispiele zu nennen. Haben Sie diese Wertvorstellungen übernommen, dagegen rebelliert oder sie verdrängt und stellen ab und zu fest, dass sie insgeheim noch immer da sind?
6. Persönliche Stellung der Eltern
Was waren Ihre Eltern für Personen innerhalb der Gesellschaft? Hatten sie eine bestimmte Stellung/Funktion inne? Was war das für ein Image und was war damit verbunden? Was hatte die Stellung Ihrer Eltern für einen Einfluss darauf, wie Sie vom Umfeld wahrgenommen wurden?
7. Geschlechterrollen
Was war Ihre Mutter für eine Frau? Was für Frauen verkörperten Ihre Grossmütter? Was Ihr Vater für ein Mann? Was für Männer waren Ihre Grossväter? Was wurde in welcher Generation über Frauen, über Männer was diese tun sollen/müssen/dürfen oder nicht dürfen gedacht? Und was denken Sie selbst, was Frauen/Männer (nicht) dürfen/ (nicht) müssen und sollten?
Alle sieben Faktoren, je nach Ort, Zeit und Kultur, in welcher Sie aufgewachsen sind, hatten einen Einfluss auf die Art und Weise wie Sie heute als erwachsener Mensch sind, fühlen, denken, reden und handeln – auch in der Erziehung.
Der Lebensstil Ihrer Kinder
Genau wie Sie beeinflusst wurden durch das soziale Umfeld, in dem Sie aufgewachsen sind, so wächst nun Ihr Kind ebenfalls in einem eigenen Kontext auf.
Spannend ist hier die Frage, wie sehr unterscheidet sich dieses soziale Umfeld von dem in Ihrer eigenen Kindheit? Was ist ähnlich oder gar gleich geblieben? Inwiefern pflegen Sie einen ähnlichen Erziehungsstil wie Ihre Mutter/Ihr Vater und wo weichen Sie bewusst oder unbewusst von diesem Stil ab?
Wie reagiert Ihr Kind auf die Herausforderungen dieser sieben den Lebensstil beeinflussenden Faktoren? Und, je nach Alter Ihres Kindes, ist die individuelle Melodie schon mehr oder weniger deutlich hörbar?
Kann man den Lebensstil seines Kindes positiv beeinflussen?
Die gute Nachricht: Ja, man kann. Die Voraussetzung dazu ist, dass Sie sich selbst gut kennen und sich Ihres eigenen Lebensstils und den darin verwobenen Muster bewusst sind: Das macht Sie achtsam und bringt im besten Fall einen nicht wertenden Umgang mit sich selbst und anderen hervor. Sprich, Sie sind und wirken authentisch. Kinder fühlen sich dadurch sicher und aufgehoben: Sie spüren, meine Mama/mein Papa ist echt, ungekünstelt und meint, was er sagt.
Haben Sie selbst einen Umgang mit Ihren eigenen Schwächen und Ressourcen gefunden, werden Sie Ihrem Kind auf eine ermutigende Weise vermitteln können, wie auch es mit seinen Fähigkeiten wachsen, sich entfalten und auch mal stolpern und wieder aufstehen kann.
Hier finden Sie weiterführende Informationen zu Lebensstil & Erziehungsstil:
Geschwisterkonstellation
Auf dieser Site erfahren Sie, wie Sie mit der Stellung Ihres Kindes innerhalb der Geschwisterreihe achtsam umgehen können: www.rtl.de
Resilienz
Buchtipp: Das Resilienzbuch – Wie Eltern ihre Kinder fürs Leben stärken, ein umfassendes und überaus angenehm zu lesendes Sachbuch, geschrieben von Robert Brooks und Sam Goldstein, erschienen im Klett-Cotta Verlag
Erziehung im Lebensraum Schule
Ihr Kind besucht den Kindergarten/die Primarschule, vielleicht auch an einem oder mehreren Tagen einen Hort. Das bedeutet, dass Ihr Kind, neben Ihnen als Mutter/Vater mindesten zwei bis neun oder noch mehr Bezugspersonen hat, welche in seine Erziehung involviert sind. Genau wie Sie selbst, hat jede Kindergärtnerin, Lehrerin, Hortleiterin (Männer sind selbstverständlich mitgemeint) einen eignen Lebensstil, welcher sie diesen Beruf hat wählen lassen und die ihre Art und Weise wie sie mit Kindern arbeitet, ihnen begegnet, prägt.
Heutzutage ist eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie glücklicherweise Teil des Lehrplans einer jeden pädagogischen Hochschule. Dadurch sollte ein professioneller, achtsamer und ermutigender Umgang in der pädagogischen Begleitung Ihres Kindes im Lebensraum Schule vorauszusetzen sein; Ausnahmen gibt es natürlich immer. Der Schule, wie auch Ihnen stellt sich die gleiche Frage: Wie können wir zusammen am gleichen Strick ziehen, am selben Netz knüpfen, das Kind am besten begleiten, damit es stark, selbstsicher und emphatisch werden und sich in seiner Ganzheit entfalten und entwickeln kann?
Serie: Erziehung ohne Strafen
Text: Martina Wieland
Martina Wieland ist seit 2006 als Individualpsychologische Beraterin tätig. Sie ist Mitglied der SGIPA (Schweizerischen Gesellschaft für Individualpsychologie nach Alfred Adler) und der SGfB (Schweizerische Gesellschaft für Beratung). Im Zürcher Seefeld bietet sie unter anderem Erziehungsberatungen und Beratungen bei Burnout an. Zuvor arbeitete sie als Mittelstufenklassenlehrerin in Zürich und im Kanton Aargau.
Mehr über Martina Wieland erfahren Sie auf ihrer Webseite unter www.wieweiter.com
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