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Konfessionslos aufwachsen: Kinder brauchen keinen Gott

Können Kinder ohne Gott aufwachsen? Diese Frage stellen sich viele Eltern, die religionsfrei leben. Im Interview beschreiben Ulrike von Chossy und Michael Bauer, Autoren des Ratgebers «Erziehen ohne Religion», wie das Familien gelingen kann.

Konfessionslos erziehen: So funktionierts
Ein Kind braucht keine Religion, nur Selbstvertrauen. Foto: iStock, Thinkstock

Herr Bauer, Sie sagen: Kinder brauchen keinen Gott und keine Religion, um im Leben Halt, Orientierung und Glück zu finden.

Michael Bauer: Gerade Kinder, die ohne Religion, also konfessionslos aufwachsen, erfahren eine Erziehung, die nicht durch religiöse Gedanken eingeengt ist. Sie ermöglicht es, Kinder auf ein selbstbestimmtes und verantwortungsvolles Leben vorzubereiten. Als stabile und selbstbewusste Persönlichkeiten sehen sie die Welt mit offenem Geist, treffen Entscheidungen ohne Scheuklappen und nehmen verständnisvoll Anteil am Leben anderer.

Viele meinen, der Verzicht auf religiöse Werte führe zum Verlust jeglicher Moral.

Michael Bauer: Solchen Vorstellungen liegt die Annahme zugrunde, dass der Mensch den Zwang göttlicher Gebote benötige, um «gut »zu sein und nicht ins «Böse» abzugleiten. Unterschiedliche Forschungsgebiete stellen mit überprüfbaren Erkenntnissen dieses Menschenbild infrage. Moralisch handelt ein Mensch dann, wenn er aus freiem Willen und aus Einsicht das tut, was ihm richtig erscheint!

Frau von Chossy, wie lernen Kinder, ohne Religion moralisch zu handeln?

Ulrike von Chossy: Werte werden vor allem auf zwei Weisen vermittelt: durch das Verhalten der Bezugspersonen, zum Beispiel in der Familie, und durch das gemeinsame Nachdenken über Werte, beispielsweise im Dialog. Eltern sollten von Anfang an die Meinung ihrer Kinder respektieren und sie so zum Selbst-Denken anleiten. Sie können das an ganz alltäglichen Ereignissen trainieren, die gar nichts mit Religion und Weltanschauung zu tun haben. Durch eigene Urteile wird das Urteilsvermögen immer weiter modifiziert und entwickelt. Kinder erkennen zunehmend das Richtige und führen es aus.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ulrike von Chossy: Eltern sollten Pauschalaussagen wie «Das hat doch gar nicht weh getan» vermeiden. Denn die Entwicklung eines eigenen Standpunktes setzt auch das Selbstbewusstsein voraus, die eigenen Empfindungen zu erspüren und aussprechen zu können.

Eltern sollen Kinder also nicht beeinflussen?

Moralentwicklung ist keine Einbahnstrasse. Eltern beeinflussen Kinder und Kinder beeinflussen mit neuen Ideen und Auffassungen die Moralentwicklung der Eltern. Das ist Teil des gesellschaftlichen Fortschritts. Eltern sind oft überrascht, was sie von ihren Kindern alles lernen können, wenn sie es zulassen!

Herr Bauer, die Welt ist voller Fragen. Religiös lebende Menschen haben es oft leichter, Antworten zu finden. Was können sie entgegnen, wenn die Kleinen fragen: «Woher kommen wir?»

Michael Bauer: Eltern können Kindern die Erkenntnisse der Wissenschaft in angemessener Weise vermitteln. Die Evolution erklärt die Entstehung von Tier und Mensch auf natürliche Weise. Schon im Kindergarten und in der Grundschule sollten evolutionäres, geologisches und physikalisches Wissen vermittelt werden. Religiöse Deutungen sind demgegenüber Mythen, Deutungsversuche früherer Kulturen, die mit ihrem damaligen Wissen ebenfalls um Erkenntnis gerungen haben.

«Wohin gehen wir?» wollen Kinder wissen, wenn sie mit dem Tod in Berührung kommen. «Werden wir Oma eines Tages wiedersehen?» «Wo lebt die Katze jetzt?» Wie können Kinder mit der Aussicht zurechtkommen, dass mit dem Tod das Leben endgültig vorbei ist?

Michael Bauer: Die Angst vor dem Tod gehört zu den Urbestandteilen der menschlichen Natur. Sie lässt den Menschen sein Leben schätzen und vorsichtig damit umgehen. Es ist nicht sinnvoll, den Tod zu bagatellisieren. Dennoch können Eltern dem Tod ein wenig von seinem Schrecken nehmen.

Wie können Eltern ihre Kinder trösten?

Ulrike von Chossy: Es ist für die Entwicklung von Kindern hilfreich, sich in der Familie bereits dann mit dem Ende des Lebens zu beschäftigen, wenn kein Verlust aktuell ist. Ein toter Vogel auf einer Wiese kann dafür Anlass sein. Dadurch erfahren Kinder schon vor einer akuten Krise, dass der Tod zum Leben gehört. Trauer betrifft sie nicht nur allein, sondern alle Menschen. Im Trauerfall ist es am wichtigsten, den Kindern Geborgenheit und Nähe zu vermitteln, ihnen zu zeigen, dass sie in ihrer Trauer nicht alleine sind.

Bleibt die Frage nach dem Sinn des Lebens.

Ulrike von Chossy: Schön, wenn Eltern schon mit kleinen Kindern philosophieren! Kinder kommen auf überraschende Antworten zu Fragen, die wir Erwachsene schon abgehakt haben. Wenn Eltern sich darauf einlassen, lernen sie viel Neues!

Wie gehen religionsfreie Eltern mit all den Festen um, die das Jahr religiöser Menschen verschönern?

Michael Bauer: Religionsfreie Menschen können religiöse Feste zum Anlass nehmen, ebenfalls zu feiern! Sie gliedern das Jahr, markieren Wendepunkte im Leben eines Menschen und heben besondere Ereignisse hervor. Zum Glück zeichnet sich die weltliche Feierkultur dadurch aus, dass sie viel Raum für eigene Ideen und Kreativität lässt. Dabei können Feste und Feiern auf vielfältige und ungezwungene Weise zur Wertebildung beitragen. Religiöse Fest- und Feiertage lassen sich auch nutzen, um mit Kindern die historischen Hintergründe dieser Feste zu besprechen und so ihre kulturelle Bildung zu bereichern. Gibt es ähnliche Feste vielleicht auch in anderen Religionen?

Familien könnten auch eigene Feier-Rituale entwickeln, oder?

Michael Bauer: Unbedingt! Feiern ist ein Stück Lebensqualität! Es dient dem familiären und freundschaftlichen Zusammenhalt. Der erste Zahn, die Einschulung, auch eine überstandene Krankheit sind gute Anlässe für eine Feier im Freundes- und Familienkreis.

Spätestens mit dem Eintritt der Kinder in die Grundschule kommen Eltern um eine Auseinandersetzung mit Religion nicht mehr herum.

Michael Bauer: In den meisten Schweizer Kantonen wird mittlerweile ein unterschiedlich ausgestalteter und benannter Unterricht über Religion als Religionskunde angeboten, der für alle Schüler verpflichtend ist. Er liegt in der Verantwortung des Staates und findet ohne Beteiligung der Religionsgemeinschaften statt. Für die deutschsprachige Schweiz sieht der Lehrplan 21 einen Fachbereich «Ethik, Religionen, Gemeinschaft (mit Lebenskunde)» vor. Dieser Reform haben sich aber nicht alle Kantone angeschlossen. Zum Beispiel gibt es in den Kantonen Basel Stadt und St. Gallen nach wie vor kirchlichen Religionsunterricht mit Abmeldemöglichkeit.

Auch wenn Kinder am klassischen Religionsunterricht nicht teilnehmen müssen, wird ihnen Religion immer wieder begegnen. Kirchenlieder im Schulchor, das Kreuz in der Klasse – wie können Eltern damit umgehen?

Ulrike von Chossy: Wichtig ist es, die Kinder darüber aufzuklären, dass es sich um Symbole beziehungsweise Rituale handelt, die ein Gemeinsamkeitsgefühl erzeugen sollen. So etwas gibt es ja in vielen Religionen und Kulturen. Die Kinder sollten verstehen lernen, dass es sich dabei nicht um besondere Dinge handelt, sondern um ein kulturell bedingtes Gruppenverhalten. Vielleicht kann man ja mit eigenen Liedern, Symbolen, Feiern das Schulleben bereichern und vervollständigen. Abgesehen davon gibt es gegebenenfalls natürlich auch rechtliche Grundlagen, die nichtreligiöse Eltern in ihrer Weltanschauungsfreiheit schützen. Das Juristische sollte aber nicht das erste Mittel der Auseinandersetzung sein, besser wäre der lösungsorientierte Dialog.

Zur Person

Der Diplom-Politologe Michael Bauer ist geschäftsführender Vorstand des Humanistischen Verbands Deutschland, Landesverband Bayern. www.hvd-bayern.de

Ulrike von Chossy (Dipl.-Sozialpäd., M.A.) ist Bereichsgeschäftsführerin Pädagogik des HVD Bayern und Leiterin der Humanistischen Grundschule Fürth.

Buchtipp

Buchtipp: Erziehen ohne Religion: www.reinhardt-verlag.de

 

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