Parentifizierung: Wenn Kinder in die Elternrolle gedrängt werden
EntstehungUrsachen Parentifizierung erkennenSpätfolgenTest: Wurde ich parentifiziert? Parentifizierung auflösenHilfe finden
Hausputz, Rechnungen zahlen und Mami trösten – diese Aufgaben sind für ein Kind ungeeignet. Und doch gibt es Kinder, die in der Familie Aufgaben erledigen müssen, die eigentlich in den Verantwortungsbereich der Eltern gehören. Dies nennt man Parentifizierung und kommt besonders häufig bei Familien vor, die sich in einer schwierigen Situation befinden. Im Erwachsenenalter zeigt sich die frühe Übertragung von elterlichen Aufgaben und Verantwortung oft in Form von psychischen Problemen
Eine Mutter klagt ihrem kleinen Sohn ständig von ihrem Liebesleben. Ein Vater delegiert sämtliche Hausarbeiten an seine achtjährige Tochter. Ein zehnjähriger Junge kümmert sich um seine vierjährige Schwester, weil Mama und Papa nie zu Hause sind. Das alles sind Beispiele einer Parentifizierung. Doch wann wird es zu viel? Und was macht das mit einem Kind?
Was versteht man unter Parentifizierung?
Unter Parentifizierung versteht man eine Art Umkehr der Eltern-Kind-Beziehung. Wenn ein Kind parentifiziert wird, erhält es eine Rolle und eine Verantwortung, welche es emotional überfordert.
Dr. phil. Kira Ammann, Erziehungswissenschaftlerin der Universität Bern, erklärt:«Es kommt zu einer Umkehrung der Kinder- und Elternaufgaben. Das Kind soll Zuständigkeiten und Verantwortungen übernehmen, die nicht seinem Alter entsprechen und fühlt sich für das Glück der Eltern verantwortlich.»
Expertin im Interview: Dr. phil. Kira Ammann
Dr. phil. Kira Ammann ist Erziehungswissenschaftlerin am Institut für Erziehungswissenschaften an der Universität Bern. Sie forscht und unterrichtet u.a. zu Fragen rund um das Aufwachsen und die Erziehung von Kindern, Kindheitsforschung, Kinderrechten und Kinderschutz. Mehr über Kira Ammann erfährst du hier.
Wie entsteht eine Parentifizierung?
«Situationen, die das Familiensystem in Schieflage bringen, begünstigen eine Parentifizierung», sagt Ammann. Untersuchungen zeigen, dass dazu unter anderem die Scheidung der Eltern, der Tod eines Elternteils sowie psychische oder körperliche Erkrankungen gehören. Diese Umstände machen es den Eltern unmöglich, ihren Verpflichtungen als Elternteil nachzugehen. Diverse Verantwortungsgebiete fallen dann an die Kinder. Ist ein Elternteil beispielsweise schwer krank, kommt es vor, dass das Kind die Pflege übernimmt. Wenn ein Elternteil die Familie verlässt, wird das Kind manchmal zum Ersatz.
Mögliche Ursachen von Parentifizierung
- Scheidung
- Tod eines Elternteils
- Suchterkrankung eines Elternteils
- Psychische Erkrankung eines Elternteils
- Chronische Erkrankung eines Elternteils
- Finanzielle Not
Parentifizierung erkennen: Was können Eltern tun?
Für Eltern ist es meist schwer zu erkennen, wenn sie ihr Kind parentifizieren. «Parentifizierung fängt oft schleichend und unbewusst an», weiss Ammann. «Es ist ja auch nicht die Absicht des Elternteils, das Kind beispielsweise zum Partnerersatz zu machen oder es mit Alltagsaufgaben zu überfordern.»
Wenn sich die eigene Familie in einer schweren Situation befindet, lohnt es sich aber, einmal inne zu halten und sich zu fragen: Darf mein Kind gerade Kind sein? Muss mein Kind Aufgaben übernehmen, die andere Kinder nicht machen müssen, wie beispielsweise den Familieneinkauf übernehmen? Auch wenn du dein Kind eher als besten Freund oder beste Freundin wahrnimmst, kann das ein Warnzeichen sein.
Spätfolgen: Was wird aus parentifizierten Kindern?
Erwachsene, die als Kind in die Elternrolle gedrängt wurden, haben oftmals mit schweren psychischen Folgen zu kämpfen. Probleme wie Bindungs-, Angst- und Essstörungen sowie Depressionen können entstehen.
«Insbesondere die Autonomieentwicklung wird verhindert», erklärt Kira Ammann. «Für altersadäquate Entwicklungs- und Ablösungsprozesse ist kein Platz. Sich abzugrenzen und zu lernen, wie man Nein sagt, ist dann beispielsweise schwer.»
Diese Muster ziehen sich oftmals bis ins Erwachsenenalter. Man beginnt, Verantwortung für Dinge zu übernehmen, über welche man keinerlei Kontrolle hat und fühlt sich verantwortlich für das Glück anderer Menschen. Ergänzend kann man bei vielen Betroffenen einen geringen Selbstwert beobachten. Dieser ist oftmals stark abhängig von anderen Menschen.
Parentifizierung kann aber durchaus auch positive Folgen haben. So bringen betroffene Erwachsene oft einen hohen Grad an Sozialkompetenz, Verantwortungsbewusstsein und Einfühlungsvermögen mit.
Wurde ich parentifiziert?
Diese Anzeichen können darauf hindeuten, dass du als Kind in die Elternrolle gedrängt wurdest:
- Du musstest als Kind Aufgaben im Haushalt übernehmen, die unpassend für dein Alter waren. Mögliche Beispiele sind der Hausputz, das Kochen von Mahlzeiten oder die Verwaltung der Familienfinanzen.
- Du hast dich anstelle deiner Eltern um deine jüngeren Geschwister gekümmert.
- Deine Eltern haben dich bei ihren persönlichen Problemen oft um Rat gefragt.
- Du hast von anderen Erwachsenen oftmals das Kompliment bekommen, für dein Alter besonders reif und verantwortungsbewusst zu sein.
- Wenn du an deine Kindheit denkst, hast du das Gefühl, etwas verpasst zu haben.
- Als Erwachsene/r gerätst du oft in co-abhängige Beziehungen.
- Es fällt dir schwer, deine Grenzen und Bedürfnisse zu kommunizieren.
Parentifizierung auflösen: So löst du dich ab
Wenn dir im Erwachsenenalter bewusst wird, dass in deiner Familie eine Rollenumkehr stattgefunden haben könnte, löst das oft schwierige Gefühle aus. «Manche haben das Gefühl, dass ihnen die Kindheit genommen wurde», erläutert Ammann. Emotionen wie Scham, Wut und Trauer treten häufig auf, bereits belastete Eltern-Kind-Beziehungen werden noch schwieriger.
Ammann rät dazu, sich auf jeden Fall Unterstützung zu holen: «Eine Psychotherapie kann dabei helfen, diese Emotionen zu bewältigen und Muster zu lösen. Aber es braucht ein hohes Mass an Selbstreflexion und viel Arbeit an sich selbst.»
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