Tod, Gewalt Krieg: Wieviel Wahrheit vertragen unsere Kinder?
Obwohl wir es uns immer wieder anders wünschen, gehören dunkle Seiten wie Krankheit und Tod und viel zu häufig auch Gewalt und Krieg zum Leben. Wieviele dieser Schattenseiten Eltern ihren Kindern zumuten können, erklärt der Chefarzt des Sozialpädiatrischen Zentrums des Kantonsspitals Winterthur, Dr. Kurt Albermann.
Herr Dr. Albermann, wir wünschen Kindern eine heile Welt – doch die Realität ist oft eine erschreckend andere. Wie lange sollten Eltern Kindern die heile Welt bewahren und sie vor dem echten Leben schützen?
Dr. Kurt Albermann Kinder sind von Anfang an nicht nur Teil des echten Lebens, sie befinden sich sogar mittendrin. Selbst ungeborene und ganz kleine Babys bekommen in der Regel bereits viel mehr mit, als sich ihre Bezugspersonen vorstellen können. Von klein auf nehmen sie – ihrem Entwicklungsstand entsprechend – Unruhe, Stress, Bedrohung und Panik in ihrem Umfeld wahr. Als junge Kinder können sie die Ursachen allerdings noch nicht genau einordnen und verstehen.
Können Eltern Ursachen benennen, ohne Angst haben zu müssen, dem Kind zu viel zuzumuten?
Ja, das Kind zum einen seinem Alter entsprechend aufzuklären und zum anderen zu beruhigen, ist ein Weg, der ihm hilft, die Welt zu verstehen und sich gleichzeitig sicher zu fühlen. Allerdings sind Kinder sehr verschieden und manche sind empfindlicher oder eben belastbarer als andere.
Können Sie diese Richtschnur am Beispiel von Corona verdeutlichen?
Im Fall von Corona können Eltern ihrem Kind erklären, dass die Ansteckung durch dieses Virus in etwa wie bei einer Erkältung oder Grippe funktioniert. Eltern sollten den Fokus auf positive Aspekte richten. Zum Beispiel darauf, dass älteren Menschen Medikamente und die Behandlung beim Arzt helfen, wenn sie erkranken. Wichtig ist auch die Botschaft: «Wir können uns und andere schützen, indem wir die Hygieneregeln einhalten. Und wenn wir uns schützen, müssen wir keine Angst haben.»
Was antworten Eltern, wenn Kinder fragen, ob Menschen an Corona sterben können?
Wenn Kinder danach fragen, sollte man ihnen sagen, dass das möglich ist, vor allem dann, wenn ältere Menschen durch andere Krankheiten bereits sehr geschwächt sind. Kinder sollten aber auch wissen, dass es viele ältere Menschen gibt, die erkranken, aber wieder gesund werden. Und dass kleine Kinder und Jugendliche praktisch nie durch das Virus sterben.
Um mit Kindern so beruhigend reden zu können, brauchen Eltern selbst einen klaren Blick auf die Lage …
Ja, wer selbst aufgrund einer Angststörung zu übertriebenen Vorsichtsmassnahmen greift, sich zum Beispiel ständig die Hände desinfiziert, das Haus nicht mehr verlässt, auch wenn es von Seiten der Behörden erlaubt ist oder auch im Freien einen grossen Bogen um Menschen macht, schürt unnötigerweise Ängste beim Kind. Wenn Eltern bezüglich der Schutzmassnahmen unsicher sind, sollten sie mit ihrem Haus- oder Kinderarzt sprechen.
Wo liegt die Grenze der Ehrlichkeit Kindern gegenüber?
Manche Kinder fragen ihren Eltern Löcher in den Bauch. Speziell jüngere Kinder stellen nicht selten sehr genaue Fragen, deren Antworten sie dagegen noch nicht in ihrer ganzen Bedeutung verstehen würden. Sie wären damit überfordert. Das heisst: Nicht immer gelingt es ihnen, mit den entsprechenden Antworten emotional klar zu kommen und diese richtig einzuordnen. Deshalb kann es sinnvoll sein, die Fragerei auch mal zu beenden. Allerdings gibt es keine allgemeingültige Grenze. Wenn Eltern ihrem Kind jedoch zuhören und gut mit ihm in Kontakt sind, nehmen sie sehr genau wahr, mit welchen Antworten es bereits umgehen kann.
Wie können Eltern Fragenketten auflösen?
Eltern können ruhig mal den Fokus ändern und sagen: «So, erstmal genug gefragt. Jetzt machen wir etwas anders. Worauf hast du Lust?» Wenn sich das Kind darauf einlässt, haben sie das Gespräch offensichtlich am richtigen Punkt beendet. Beharrt das Kind aber auf weitere Antworten, besteht möglicherweise noch Klärungsbedarf. Dann können sie ihrem Kind mitteilen, dass sie das Gespräch zu einem geeigneten Zeitpunkt fortsetzen, also eben nicht ausgerechnet am Abend beim Zubettgehen. Die Eltern können auch viel über die Sorgen ihres Kindes erfahren, indem sie es fragen, was für eine Antwort auf seine Frage es selbst geben würde.
Ist es Kindern zuzumuten, sich von der sterbenden oder von der verstorbenen Grossmutter zu verabschieden?
Wenn es Eltern in einem Sterbeprozess gelingt, ihrem Kind ausreichend Sicherheit zu vermitteln, kann es sinnvoll und hilfreich sein, das Kind altersangemessen vorzubereiten und einzubeziehen. Traumatisierende Bilder und Erinnerungen, die sich einprägen, sollten sie ihrem Kind nach Möglichkeit ersparen. Das heisst, es sollte die Möglichkeiten haben, die Oma oder den Opa so in Erinnerung zu behalten, wie sie ihn kannten.
Verstörende Bilder gibt es auch im Internet und im Fernsehen.
Ja, auch Gewaltszenen in den Nachrichten und in Filmen können sich im Geächtnis einbrennen und Ängste auslösen. Wenn Eltern befürchten, dass Kinder mit Bildern nicht klar kommen, können sie sie darauf ansprechen: «Ich habe gehört, dass du gestern bei deinem Kollegen schiessende Panzer gesehen hast und Menschen, die auf dem Boden lagen. Weisst du, was das bedeutet? Wie geht es dir damit?» Dann sind die Eltern im Gespräch mit ihrem Kind, können zuhören und entsprechend reagieren. Ich würde die Kinder auch präventiv auf solche Situationen vorbereiten, ihnen also sagen, dass es Bilder gibt, die uns nicht gut tun. Ich finde es sinnvoll, mit den Kindern zu überlegen, was sie tun können, wenn sie mit solchen Bildern ungewollt konfrontiert werden, beispielsweise durch entsprechenden Gruppendruck.
Schreckliche Bilder gibt es auch in Ego-Shooter-Spielen und Video-Kriegsspielen, die ältere Kinder und Jugendliche gerne spielen.
Ja genau. Es gibt heute belastbare Studien, dass solche Spiele bei häufigem Gebrauch einen nachteiligen Effekt auf die kindliche Entwicklung haben. Daher ist es wichtig, dass Eltern das Konsumverhalten ihrer Kinder und Jugendlichen kontrollieren und mit ihnen darüber im Gespräch sind. Aktuell hören wir vermehrt, dass pornographische Inhalte, Hinrichtungsszenen und ähnliches in Chats herumgereicht werden und die Kinder oder Jugendlichen dann Traumafolgen entwickeln.
Dürfen Eltern im Beisein ihrer Kinder Nachrichten verfolgen?
Ich denke, Eltern können Nachrichten im Beisein ihrer Kinder verfolgen, aber sie sollten diese Zeit begrenzen und damit eher zurückhaltend sein. Auch in den TV-Nachrichten gibt es Bilder, die man Kindern nicht zumuten sollte. Verstörende oder traumatisierende Sendungen sind unbedingt zu vermeiden. Kinder verstehen in der Regel, wenn ihnen erklärt wird, dass es im Fernsehen und im Internet Angebote für Erwachsene und für Kinder gibt. Auch für Erwachsene ist es nicht sinnvoll, sich den ganzen Tag mit Katastrophen, Gewaltdarstellungen, Unglücksmeldungen und den entsprechenden Bildern zu befassen. Es ist wichtig, diesen Einfluss zu begrenzen. Beim Fernseher entscheidet auch die Grösse des Bildschirms und die Lautstärke, wie sehr Bilder wirken – und natürlich, ob das Gesehene später mit dem Kind thematisiert wird. Wer Nachrichten im Internet oder in der Tageszeitung liest, setzt einen wirksamen Filter für kleine Kinder ein.
Wie können Eltern Kinder schützen?
Eltern können Kinder nicht grundsätzlich vor den Schattenseiten des Lebens bewahren. Sie können aber Folgen mildern. Das gelingt, indem sie Vorsorge treffen, mit ihnen in Kontakt sind und ihnen ein Gefühl von Liebe, Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. Eltern sollten ihren Kindern auch Gesprächsbereitschaft bezüglich belastender oder peinlicher Themen signalisieren.
Wie können Eltern Kinder stark gegen körperliche und verbale Gewalt machen?
Kinder, die wissen, wie sie sich in schwierigen Situationen schützen und behaupten können, an wen sie sich wenden und wo sie Hilfe holen können, kommen mit Krisensituationen besser zurecht. Und sie wenden im späteren Erwachsenenalter selbst weniger Gewalt an, insbesondere Jungen. Darüber hinaus ist es wichtig, schon heute abzuklären, was mit ihnen passiert, wenn die Mutter oder der Vater durch einen Unfall oder wegen einer Erkrankung ins Krankenhaus müssen. Wo würden die Kinder aufwachsen, wenn den Eltern etwas Schlimmes zustossen, wenn sie gar tödlich verunglücken sollten?
Zur Person: Dr. Kurt Albermann
Der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Dr. Kurt Albermann, ist Chefarzt des Sozialpädiatrischen Zentrums SPZ am Kantonsspital Winterthur. Zudem ist er Ärztlicher Leiter des Instituts Kinderseele Schweiz (iks). Sein Buch «Wenn Kinder aus der Reihe tanzen» informiert über psychische und Entwicklungsstörungen sowie Suchterkrankungen bei Kindern und Jugendlichen sowie Behandlungs- und Unterstützungsmöglichkeiten.