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Wie Polyamorie im Familienleben funktionieren kann

Man kann nicht nur eine Person lieben. Das besagt das Konzept der Polyamorie. Es sieht vor, dass ein Mensch mit mehreren Personen zur selben Zeit Liebesbeziehungen hat. Wie funktioniert diese Beziehungsform in der Realität? Und wie lebt man polyamor, wenn man Kinder hat oder will? Dies wollten wir von Sex Educator Jessica Sigerist genauer wissen.

Glückliche Frau, die mit Freunden spricht, während sie Essen in der Küche kocht. Gruppe von Freunden mit ihren Kindern am Küchentisch und eine Frau, die zu Hause das Abendessen zubereitet.
Kinder in einer polyamoren Familie profitieren von mehreren Bezugspersonen. © nPortra / E+

Polyamorie: Das Wichtigste in Kürze

Ein Leben lang verliebt in die ein und dieselbe Person und in einer monogamen Partnerschaft? Wer sich als polyamor bezeichnet, kann sich das nicht vorstellen. Liebe ist nach Auffassung der Polyamorie nicht exklusiv, sondern wird mehreren Menschen gegenüber gefühlt. Wer polyamor lebt, lebt diese Liebe in verschiedenen Beziehungen aus. Das bedeutet aber nicht emotionale oder sexuelle Untreue.

Definition: Das bedeutet Polyamorie

Die Beziehungsform Polyamorie besteht aus den Wörtern «Poly», altgriechisch für «viele, mehrere» und «Amor» aus dem Lateinischen für Liebe. Das Mehrfachlieben zeigt sich darin, dass polyamore Menschen eine Liebesbeziehung zu mehreren Personen haben oder wünschen.

Im Gegensatz zu einer offenen Beziehung lässt Polyamorie auch eine emotionale Bindung zu. So werden Gefühlen wie Verliebtheit oder das Ausleben der Sexualität und das Führen einer Partnerschaft zu mehreren Personen eingeschlossen. Dies setzt voraus, dass alle Beteiligten von dem nicht-monogamen Charakter der Beziehung Bescheid wissen und diese Form einvernehmlich ist. Denn zu den polyamoren Werten gehören Ehrlichkeit, Gleichheit, Nicht-Exklusivität und Autonomie in der Beziehung.

Mehr als eine Person lieben: Geht das?

Über die Frage, ob eine Person mehr als eine andere Person lieben kann, spalten sich die Meinungen. Die einen, wie zum Beispiel der Psychologe Markus Ernst, kann sich nur schwer vorstellen, dass der Raum, Kopf und Bauch, den die Liebe einnimmt, gleichzeitig mit mehreren Menschen geteilt werden kann. Die Psychologin Danuta Prentki hingegen ist davon überzeugt, dass es biologisch gesehen sicher möglich ist, mehr als eine Person zu lieben und dies im Zuge der Evolution vorteilhaft sein kann, wenn wir uns häufiger verlieben.

Wir stellen die Frage Sex Educator Jessica Sigerist. Für sie ist die Sache klar: «In allen Beziehungen, die wir führen, wird uns zugetraut, dass wir mehr als eine Person lieben können und diese auch nicht in eine Hierarchie stellen müssen» So geben zum Beispiel die meisten Eltern an, ihre Kinder gleich fest zu lieben. Warum sollte das also nicht auch für die Partnerschaft gelten, meint Sigerist. «Für polyamore Menschen ist das auch in romantischen und sexuellen Liebesbeziehungen der Fall.»

Über Jessica Sigerist

Jessica Sigerist
© Elio Donauer/tsüri.ch

Jessica Sigerist (sie/keine) ist Elternteil eines Kindes und lebt seit 15 Jahren in nicht-monogamen Beziehungen. Jessica Sigerist hat Ethnologie und Soziale Arbeit studiert und 2019 untamed.love, den ersten queer-feministischen Sex Shop der Schweiz gegründet.

Woher kommt der Wunsch nach einer Mehrfach-Beziehung?

Polyamore Beziehungen finden in den letzten Jahren vermehrt Zuspruch. Gemäss dem Generationen-Barometer von 2023 gehen 61% der 18- bis 25-Jährigen davon aus, dass in Zukunft nicht-monogame Beziehungen normal und akzeptiert sein werden. Gesellschaftliche Veränderungen wie die vermehrte Mobilität und zunehmende Unverbindlichkeit in der Gesellschaft liessen während der sexuellen Revolution in den 1960er-Jahren den Zweifel am normativen Leitbild wachsen.

Die Gründe und Ursachen, wieso Menschen nicht-monogam leben, sind bei jeder Person unterschiedlich. In einer Studie von Piper und Bauer von 2014 erzählen Teilnehmende, dass sie in der Vergangenheit glückliche, monogame Beziehungen führten und später feststellten, dass sie sich auch in andere Personen verliebt haben. Manchmal entwickelte sich die Poly-Beziehung durch den offenen Umgang mit der Affäre dazu, ohne dass dies die Intention war.

Polyamor ist nicht gleich Polygamie: Die Unterschiede

Polygamie ist der Begriff für die Vielehe, also wenn jemand mit mehreren Personen gleichzeitig verheiratet ist. Dies ist in gewissen Kulturkreisen und Ländern erlaubt, in der Schweiz aber verboten. Der Begriff Polygamie kann auch benutzt werden, wenn jemand eine eheähnliche Beziehung zu mehreren Menschen führt.

Treue und Polyamorie: Wie geht das?

Wie bei allen Partnerschaften kommen auch in polyamoren Beziehungen Eifersucht, Unsicherheiten und Untreue zur Sprache. Was wichtig ist fürs Verständnis: Polyamorie ist nicht gleich Fremdgehen. Polyamore Beziehungen werden im Einverständnis aller Beteiligten geführt. Dies setzt auch eine klare Definition von Treue voraus: «Treue meint nicht die sexuelle oder emotionale Exklusivität», beschreibt es Psychologin Julica Möck. «Treue in polyamoren Beziehungen beschreibt Loyalität und Beständigkeit, Vertrauen, Zuverlässigkeit und das Zugeständnis, dass an der Beziehung festgehalten wird, auch wenn – oder besser obwohl nebenher noch andere Personen geliebt werden.»

Die häufigsten Probleme in polyamoren Beziehungen

Wie auch in monogamen Beziehungen kommt es in der Polyamorie und anderen alternativen Beziehungsformen zu Problemen und Herausforderungen. Offenheit, Selbstreflexion und eine gute Kommunikation sind Grundvoraussetzungen für jede Beziehungsform. Wer anders lebt als die Norm wird aber oft vor weitere Herausforderungen gestellt: Jessica Sigerist stellt fest, dass polyamore Familien in der Schweiz strukturelle Diskriminierung erfahren. «Weder ist es in der Schweiz möglich mehrere Menschen gleichzeitig zu heiraten noch kann ein Kind mehr als zwei Elternteile haben. Vom Wohnungsmarkt bis hin zu Freizeitangeboten: Alles ist in der Regel auf monogame Paare und Familien zugeschnitten.» Auch in der Gesellschaft ist Polyamorie oft noch immer ein Tabu. Polyamore Menschen und Familien werden immer wieder mit Vorurteilen und negativen Reaktionen konfrontiert.

Ich glaube, ich bin polyamor: Was tun, wenn du mehr als eine Person liebst

1 Wenn du dich fragst, ob du polyamor bist, setze dich mit deinen Gefühlen, Bedürfnissen und Wünschen auseinander. Kläre für dich, was dir wichtig in einer Beziehung ist und weshalb. Egal, ob du auf der Suche nach einer Beziehung bist oder gerade jemanden kennenlernst, sprich deine Vorstellungen von Beziehungsform bereits früh an, so dass keine Missverständnisse aufkommen. «Wenn man bereits in einer bisher monogamen Beziehung ist und die Beziehungsform verändern oder die Beziehung öffnen möchte, rate ich zu Ehrlichkeit, eigener Auseinandersetzung mit dem Thema und zur Auseinandersetzung miteinander» so Jessica Sigerist.

2 Gib dir und deiner Partnerin oder deinem Partner Zeit und Raum, um sich mit dem Thema auseinanderzusetzten. Jessica Sigerist hält fest: «Wichtig ist, dass für alle Beteiligten eine Auseinandersetzung stattfindet und sie sich Fragen stellen können: Wie möchte ich leben? Was stimmt für mich?»

3 Findet dann gemeinsam heraus, wo ihr gemeinsame Nenner findet und wo eben nicht. «Am Anfang können klare Abmachungen hilfreich sein. Setzt dabei den Fokus darauf, was für eure Beziehung wichtig ist.» So kannst du anstatt einer Regel wie «Du darfst nicht mehr als zwei andere Leute pro Woche treffen», deine Bedürfnisse mitteilen und sagen: «Es ist mir wichtig, dass wir zwei Abende pro Woche gemeinsam verbringen.»

Teste dich: Kannst du polyamor leben?

Bist du neugierig und willst wissen, ob du eine Liebesbeziehung zu mehreren Personen führen kannst oder deine Zweierbeziehung offen dafür ist? Unser Test kann dir bei der Auseinandersetzung damit helfen.

Polyamorie und Kinder: So funktionieren polyamore Familien

Polyamorie bemüht sich um die Entwicklung einer eigenen Sprache und ethischer Leitlinien. So auch bei Familienkonstellationen. «Eine polyamore Familie ist kein Spezialfall, sondern einfach eine weitere Variante in der Vielfalt der Familienformen», so Sigerist. Das klassische Bild einer Familie mit Mutter, Vater, Kinder entspricht heute nicht mehr der gesellschaftlichen Realität. Patchworkfamilien, Einelternfamilien und Mehrgenerationenhaushalte machen in der Schweiz 30% der Formen des Familienlebens aus.

Wie eine polyamöre Familie aussieht, ist vielfältig: «Jede polyamore Familie ist anders und es gibt keine richtige oder falsche Art alternative Beziehungs- und Familienformen zu leben», weiss Sigerist.

Wie Kinder in polyamoren Familien aufwachsen

Kinder, die in einer polyamoren Familie gross werden, profitieren laut einer Studie von Goldfeder und Sheff davon. In den Befragungen gaben die Kinder an, dass sie es schätzten, stets eine Ansprechperson zu haben, die Zeit für sie hat, und sie fühlen sich nicht allein. Durch die offene Kommunikation und den nicht normativen Lebensstil sind die Kinder offener: Sie teilen ihre Gefühle und Probleme eher mit und können sich freier entfalten.

Wie du deinen Kindern erklärst, dass ihr polyamor seid

Kindern muss man oft gar nicht so viel erkläutern. Jessica Sigerist weiss: «Grundsätzlich sind Kinder oft offener als Erwachsene, da sie noch nicht lange mit monogamen Idealen konfrontiert wurden.» Die Studien von Elisabeth Sheff bestätigen, dass gerade junge Kinder keinen Unterscheid zu anderen Familienformen feststellen können. Jessica Sigerist rät zu einfachen Erklärungen: «Die meisten Menschen lieben mehr als einen Menschen und auch das Kind wird diese Erfahrung bereits gemacht haben: Es kann mehrere Elternteile lieben, mehrere Geschwister, mehrere Grosseltern und mehrere Freunde und Freundinnen.

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