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Heimkinder: «Die Angst vor Stigmatisierung ist riesig.»

Kinderheim: Wer diesen Begriff hört, denkt vielleicht an eine traurige Kindheit oder gar an Missbrauch oder Gewalt. Nicht sofort an eine Chance. Die Journalistin Barbara Tänzler hat für ihr Buch «Kinderheim statt Kinderzimmer» neun ehemalige Heimkinder getroffen. Im Interview erzählt sie von diesen Begegnungen und ihrer Arbeit am Buch.

Ehemalige Heimkinder haben auch heute Angst vor Stigmatisierung.
Wer sein Leben im Kinderheim verbracht hat, spricht später nur ungern über seine Zeit als Heimkind. Foto: Jupiterimages, © Getty Images, Polka Dot, Thinkstock

Um neun ehemalige Heimkinder interviewen zu können, haben Sie zwei Jahre gesucht. Das klingt nach einem Tabuthema.

Barbara Tänzler: Ja, das hat mich auch überrascht. Mein Ziel war es, Geschichten von Menschen zu erzählen, die trotz schwieriger Startbedingungen gesund und stabil mitten im Leben stehen. Genau diese wollen aber nicht darüber reden. Die Angst vor Stigmatisierung ist offenbar nach wie vor riesig.

Können Sie sich erklären, woher das kommt?

Wenn ein Mensch erzählt, ich habe meine Kindheit in einem Kinderheim verbracht, dann sagt er gleichzeitig, irgendetwas lief schief in meiner Kindheit. Mit seiner Heimbiografie gibt er somit sehr viel mehr von sich preis als andere, die im so genannten behüteten Zuhause aufgewachsen sind. Es würde dem negativen Klischee von Heimen sehr entgegen wirken,  wenn mehr Menschen sagen könnten: Ich war im Kinderheim, aber mein Leben ist in Ordnung.

In den Medien hören wir aber leider immer wieder von negativen Beispielen. Erst kürzlich hat der Kanton Luzern zwei Studien über die Vorkommnisse in Kinderheimen veröffentlicht. Von Missbrauch, sexueller Gewalt und folterähnlichen Strafpraktiken ist die Rede.

In dieser Untersuchung geht es um Kinderheime in der Zeit von 1930 bis 1970. Von den Portraitieren im Buch haben nur noch wenige die Heime vor der so genannten Heimkampagne erlebt in den 1970er-Jahren, als die pädagogischen Grundsätze sich sehr stark wandelten. Die religiöse Überzeugung als Erziehungsbasis und der despektierliche Umgang mit den Kindern wie in Luzern, ist heute nicht mehr möglich. Das hoffe ich zumindest.

Aus den Erzählungen der Portraitierten geht aber auch hervor, dass Kinder auch nach 1970 in Heimen Schlimmes erlebt haben. Eine Frau bekam das Frühstück auf die Toilette serviert, wenn sie böse war. Eine andere wurde vom Sohn der Pflegmutter missbraucht und die Pflegmutter unternahm nichts dagegen.

Ja, das bestreite ich auch nicht. Im Buch gibt es Menschen, die sagen, das Heim war für mich eine riesige Chance und für andere war es eine ganz schlimme Erfahrung. Die Wertung der Erinnerung klafft teilweise ganz gewaltig auseinander. Was sich durch jede Geschichte zieht, ist, dass die Kinder sich damals so schutzlos fühlten, das Gefühl hatten, keine Person zu haben, die sie konstant begleitet. Das finde ich sehr erschütternd. Die grosse Frage ist ja in der Tat, wer übernimmt, wenn die Eltern ausfallen?

Halten Sie das Modell Pflegefamilie für den besseren Weg?

Nein, das kann man so nicht sagen. Es kommt immer auf das Kind, auf das Angebot des Kinderheims, die Pflegeeltern und auf die Umstände an.

Thomas Frick war im Kinderheim.
Thomas Frick ist einer der Portraitierten. Er war elf Jahre in vier verschiedenen Heimen. Foto: Silvia Luckner, (c) Helden Verlag

Die professionelle Betreuung im Kinderheim oder die Platzierung in Pflegefamilien kosten den Staat viel Geld. Sehen Sie das als ein Problem für die Zukunft?

Eine gute Lösung kostet Geld. Wie viel ist uns das Wohl des einzelnen Kindes in unserer Gesellschaft wert? Das ist eine weitere grosse Frage. Das Kindswohl zu sichern, ist eine Verpflichtung in der Schweiz und nicht einfach eine Nettigkeit. 

Was wird das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, das im Januar 2013 in Kraft tritt, verbessern?

Es sieht unter anderem vor, dass sich die Vormundschaftsbehörden in allen Kantonen aus Fachleuten zusammensetzen müssen. Profis besitzen bessere Werkzeuge, um den einzelnen Fall zu beurteilen.  Das ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung.

Welche Geschichte aus Ihrem Buch hat Sie besonders berührt?

Alle haben mich berührt. Mich hat die Art und Weise berührt, wie die Leute erzählt haben und wie sie sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzen. Jetzt übergeben sie  ihre Geschichte der Öffentlichkeit. Das finde ich extrem mutig und auch wichtig, um andere Heimkindern zu ermutigen zu ihrer Biografie zu stehen. 

Wie haben Sie die ehemaligen Heimkinder erlebt, als Sie sie das erste Mal trafen?

Ich habe eine grosse Offenheit gespürt. Einige hatten auch das Bedürfnis ihre Geschichte zu erzählen, sicher auch weil sie teilweise ein schönes Beispiel dafür sind, wie das Leben gelingen kann trotz widriger Startbedingungen. Ich hatte erwartet, dass im Laufe der Zeit auch einige wieder abspringen. Dass das nicht passiert ist, freut mich sehr.

In Ihrem Buch stellen Sie einen Mann vor, der als junger Mann kriminell wurde und heute 100 000 Franken Schulden hat. Von seiner Arbeit als freischaffender Künstler kann er nicht leben. Wie hat er es geschafft mit Ihnen darüber zu sprechen, auch wenn er keine erfolgreiche Geschichte vorzuweisen hat?

Ich glaube nicht, dass er das so sieht. Und ich sehe das übrigens auch nicht so. Was ist eine erfolgreiche Geschichte? Ein volles Konto mit einem regelmässigen Lohn? Da bin ich mir nicht so sicher.

Bei manchen sind Sie die erste, welche die Geschichte in allen Details erzählt bekommt. Nicht mal die eigenen Kinder wissen so viel.

Wie weit erzähle ich meine eigene Vergangenheit meinen Kindern? Die neun Leute waren als Kind sehr einsam. Sie haben keine Gewohnheit darin, ihre Geschichte zu erzählen. Vielleicht ändert sich das jetzt mit dem Buch.

Was ist Ihr persönlicher Wunsch für die Zukunft von Heimkindern?

Mein Wunsch ist, dass die Platzierungen in Kinderheime oder Pflegefamilien sorgfältig von Profis begleitet werden. Da wird zum Beispiel in der Stadt Zürich sehr viel gemacht. Doch das muss überall passieren. Und nicht nur am Anfang, sondern über die ganze Zeit. Ich wünsche mir auch, dass alle Organisationen, die Plätze für Kinder oder Jugendlliche vermitteln, überprüft und qualifiziert werden müssen.

Zur Autorin

Barbara Tänzler ist Journalistin und Chefredaktorin des Schweizer Magazins für Reisekultur Transhelvetica. Die Idee zum Buch entstand durch eine Bekannte, die beruflich immer wieder mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat, für die eine Lösung ausserhalb der Familie gefunden werden musste. Die Frage, was aus diesen Menschen wird, hat die Autorin nicht mehr losgelassen. Seit drei Jahren ist sie selbst Pflegemutter von zwei Mädchen im Alter von fünf und sechs Jahren. Mit dem Buch möchte sie eine konstruktive Diskussion rund um das Thema Fremdplatzierung heute anregen.

Zum Buch

Das Buch «Kinderheim statt Kinderzimmer. Neun Leben danach» ist im Helden Verlag erschienen, kostet 28 Franken und kann unter www.helden.ch bestellt werden.

 

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