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«Ich möchte den Familien-Horizont erweitern»

Sie heissen Regenbogenfamilie, Patchworkfamilie oder Pflegefamilie. Die Journalistin Christina Caprez hat in ihrem Buch «Familienbande» 15 unkonventionelle Familienformen porträtiert: vom Schwulenpaar mit Kind bis zum Wohnkollektiv mit neun Erwachsenen und sechs Kindern. Im Interview erklärt sie, warum wir Familie heute anders definieren sollten.

Das Buch Familienbande erzählt von Regenbogenfamilien und Patchworkfamilien.
Mitchell und Martin haben als schwules Paar eine Familie gegründet und Natalia in den USA adoptiert. Im Buch «Familienbande» werden sie und 14 andere moderne Familien vorgestellt. Foto: Annette Boutellier

Frau Caprez, Sie haben in Ihrem Buch viele unkonventionelle Familienformen kennen gelernt. Haben Sie die Familien auch im Alltag beispielsweise bei der Erziehung als unkonventionell erlebt?

Teil, teils. Ich habe eine Frau interviewt, die nie Kinder haben wollte. Aber in Ägypten hat sie sich in einen Mann verliebt, von dem sie unbedingt Kinder haben wollte. Mittlerweile ist sie Alleinerziehende von zwei Kindern. Ihre beiden Jungen zieht sie zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester auf. Das ist sicher eine unkonventionelle Form der Erziehung. Ich habe auch ein Hausprojekt mit neun Erwachsenen und sechs Kindern erlebt. Da beteiligen sich auch Mitbewohnerinnen, die selbst keine Kinder haben, an der Kinderbetreuung. Aber man entdeckt schon viele Gemeinsamkeiten, wenn es um die Werte geht, die Eltern ihren Kindern in der Erziehung vermitteln wollen.

Obwohl es schon so viele unkonventionelle Familienformen gibt, gehen wir immer wieder von der Kernfamilie aus, also den Eltern mit eigenen Kindern. Warum?

Für viele ist die traditionelle Familie noch immer ein Ideal. Das sagen auch die Leute, die ich interviewt habe. Noch immer wird zum Beispiel die Patchworkfamilie als Scheitern empfunden. Aber in der Wirklichkeit sind viele Patchworkfamilien durchaus zufrieden mit der Situation. Unser Ideal einer Kernfamilie hängt auch damit zusammen, dass die Schweiz in Familienfragen im Vergleich mit skandinavischen Ländern oder auch mit Ländern wie Frankreich sehr konservativ ist. Hier wurde die Mutterschaftsversicherung erst spät eingeführt und erst jetzt ist die gemeinsame Sorge nach der Scheidung ein Thema.

Zu diesem Ideal gehört ja auch, dass wir eine Familie durch Mutter, Vater und Kinder definieren. Wie würden Sie eine moderne Familie definieren?

Ich habe für mein Buch Konstellationen gesucht, in denen sich Erwachsene um Kinder kümmern. Die Erwachsenen können die biologischen Eltern sein, es können soziale Eltern sein, beispielsweise bei einer Adoption, bei Schwulen oder Lesben. Es geht um die Erwachsenen, die im Alltag wirklich die Kinder betreuen und weniger um die biologische Elternschaft oder die Ehe als Basis von Elternschaft. Wenn man Elternschaft so erweitert, dann ergibt sich eine ganze Bandbreite von möglichen Familienformen, die weit über das Kernfamilienideal hinausgehen.

Welche Familiengeschichte ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Ich möchte gern von zwei Geschichten erzählen. Darf ich?

Ja gern.

Ich habe eine Mutter und deren erwachsene Tochter Laura kennengelernt, die  im Umfeld der 80er-Jahre-Bewegung eine Wahlfamilie gegründet haben. Die Mutter gehörte in Bern zu einer Gruppe junger Frauen, welche die Welt verändern wollten. Neun Frauen der Gruppe wurden fast gleichzeitig schwanger, doch die Beziehungen zu den Vätern hielten nicht lang. Die Frauen gründeten eine Müttergruppe, eine Art Wahlfamilie. Sie sprachen sich in Erziehungsfragen ab und diskutierten darüber, was ihre Rolle als Frau und als berufstätige Mutter anging. Die Kinder wuchsen zum Teil in WGs auf. Die Tochter Laura sagt heute dazu: «Ich fühle mich nicht als Einzelkind. Meine Familie ist riesig.» Ich  finde das eine wahnsinnig schöne Aussage, weil es zeigt, dass man sich eine Familie schaffen kann. Eine andere Familie, von der ich erzählen will, ist eine geplante Patchworkfamilie. Ein lesbisches Paar wollte ein Kind. In der Schweiz sind aber Adoption oder künstliche Befruchtung für homosexuelle Paare nicht möglich. Diese beiden Frauen haben sich deshalb mit einem schwulen Paar zusammengetan und zu viert eine Familie gegründet. Mittlerweile haben sie zwei kleine Söhne und leben in einem grossen Bauernhaus zusammen. Die Frauen wohnen im umgebauten Wohnhaus und die Männer im ehemaligen Stall. Oben unter dem Dach wohnen die beiden Kinder und denen gehört das ganze Haus.

Wie erleben die Kinder diese Familienform?

Laura spricht nur positiv über ihr Aufwachsen. Sie ist mit etwa einem Dutzend Kinder aufgewachsen, die auf zwei Jahrgänge verteilt die gleiche Schule besuchten. Sie waren eine starke Bande, wie Geschwister. Aber um die Frage allgemein zu beantworten: Kinder reagieren ganz unterschiedlich. Ich habe eine Patchworkfamilie kennen gelernt. Die Eltern haben sich scheiden lassen als die Kinder 15 Jahre alt waren. Sie haben absichtlich gewartet, um den Kindern eine heile Familie zu bieten. Die Tochter sagte, sie habe schon mitbekommen, dass ihre Eltern sich nicht mehr verstanden hätten. Sie hätte es besser gefunden, wenn sich die Eltern früher getrennt hätten. Ihr Bruder aber sagte, er sei froh gewesen, dass sie wie eine «normale» Familie gelebt hätten. So sehe er sich nicht als Scheidungskind. Ich habe auch zwei Familien interviewt, in denen lesbische Frauen Kinder erzogen haben. Der Sohn wurde in der Schule gemobbt, weil seine Mutter eine Lesbe ist. Das war für ihn sehr schwierig. Er ging vorher sehr offen damit um und dann merkte er, dass andere negativ reagierten. Es gab aber noch andere Gründe dafür, dass es ihm so erging. Er war auch ein Einzelgänger, reifer als die Klassenkameraden und drückte sich gewählt aus. Eine andere Tochter einer lesbischen Frau wiederum hat nie etwas Negatives erlebt.

Die Kinder merken also erst, dass sie etwas besonderes sind, wenn andere sie damit konfrontieren.

Ein Kind betrachtet das als normal, womit es aufwächst. Und dann passt zum Teil die Aussenwahrnehmung nicht dazu. Bei Kindern von Lesben oder Schwulen ist es manchmal bis zur Pubertät überhaupt kein Problem. Aber wenn die eigene Sexualität erwacht, werden die Kinder gehemmter. Dann wünschen sie sich zum Beispiel, dass sich die Eltern nicht knutschen, wenn Schulkameraden dabei sind – egal, in welcher Lebensform die Eltern leben. Ich habe auch gemerkt, dass viele Eltern sehr sensibilisiert sind auf ihre Situation. Sie sind sich sehr bewusst, dass sie anders sind als andere Familien. Sie machen sich auch im Vorfeld viele Gedanken, wie sie ihr Kind vorbereiten und schützen können.

Wie bereiten die Eltern das Kind vor?

Ganz unterschiedlich. Ich habe zwei Familien kennengelernt, die Kinder adoptiert haben. Die haben sich sehr stark damit auseinandergesetzt, was es bedeutet ein Kind zu adoptieren. Es gibt auch Eltern, die bewusst andere unkonventionelle Familien suchen, damit die Kinder auch andere Kinder kennen lernen, die in einer ähnlichen Situation sind.

In Ihrem Buch werden besonders viele Regenbogenfamilien, also Lesben oder Schwule mit Kindern, porträtiert. Warum hat Sie diese Familienform interessiert?

Einerseits gibt es gerade eine politische Debatte um die Rechte von Regenbogenfamilien und andererseits ist das der Bereich in der Gesellschaft, wo die innovativsten Familienformen entstehen. Natürlich oft aus der rechtlichen Lücke heraus oder aus einer biologischen Unzulänglichkeit heraus, weil man nicht als Paar Kinder bekommen kann. So entstehen Formen wie die geplante Patchworkfamilie mit zwei Lesben und zwei Schwulen, die ich interviewt habe. Oder ein Lesbenpaar, dass einen Mann fragt, ob er seinen Samen spenden kann, der dann unverhofft doch noch Teilzeit-Vater wird.

Der Bundesrat hat sich kürzlich dafür ausgesprochen, dass Homosexuelle die Kinder ihres Partners, nicht aber fremde Kinder adoptieren dürfen. Wenn man sich Kommentare von Lesern im Internet dazu anschaut, findet man oft die Meinung, dass zu einer Familie immer noch Vater und Mutter gehören. Sind wir in der Schweizer Gesellschaft schon bereit für homosexuelle Paare mit Kindern?

Ich denke ja. Ich finde es interessant wie gross die Diskrepanz ist: zwischen dem, was Leute im Forum sagen und wie es in der Realität ist. Ich habe sechs Regenbogenfamilien interviewt, aber nur eine einzige hat so etwas wie Diskriminierung erlebt. Der eine schwule Vater hat es sehr gut auf den Punkt gebracht. Er sagte: «Die Leute erwarten von uns haarsträubende Geschichten von Diskriminierung. Die können wir aber gar nicht bieten.» Er war selbst darüber erstaunt. Die Menschen reagieren überrascht und neugierig, aber nicht negativ. Das hängt sicherlich auch mit der schweizerischen Zurückhaltung zusammen. Wenn jemand etwas Negatives denkt, würde er oder sie einem das kaum ins Gesicht sagen. Aber es zeigt auch, dass die Menschen offen dafür sind.

Können Sie Argumente, wonach ein Kind nur glücklich wird, wenn es Vater und Mutter hat, nachvollziehen?

Ich bin Soziologin, ich kann mir erklären, warum Menschen dieses Bild haben. Ich bin aber selber nicht dieser Meinung, weil es eine Vielfalt an Familienformen bereits gibt. Historisch gesehen ist die Kleinfamilie etwas neues. Es ist neu, dass Liebe, Partnerschaft, Sexualität und Kindererziehung so eng miteinander gekoppelt sind. Im Mittelalter und bis ins 20. Jahrhundert hinein war es so, dass Kinderbetreuung sehr stark von anderen Menschen als den biologischen Eltern übernommen wurde.

Wenn es nicht Vater und Mutter sind, die ein Kind braucht, um glücklich zu sein, was braucht es dann?

Zu dieser Frage habe ich die Leiterin des Marie Meierhofer Instituts für das Kind befragt, die Psychologin Heidi Simoni. Sie sagte zum Thema Kindeswohl: «Ein Kind braucht vor allem verlässliche, vertraute und verfügbare Bezugspersonen, um glücklich zu sein. Und es braucht eine anregungsreiche Umgebung, damit es seine Entdeckungslust ausleben kann.» Das ist zwar sehr allgemein und abstrakt formuliert, aber ich glaube, das ist wirklich die Basis. Wer dafür sorgt, dass diese Bedingungen erfüllt sind, ob das die biologischen Eltern oder andere Bezugspersonen sind, das spielt keine Rolle.

Was würden Sie sich für die Anerkennung dieses Familienbildes wünschen?

Ich würde mir einerseits wünschen, dass die unkonventionellen Familienformen rechtlich besser anerkannt würden. Das geht über das Recht für homosexuelle Paare hinaus. Das Schweizer Familienrecht hinkt der realen Vielfalt stark hinterher und anerkennt auch die Sorgeberechtigung von Stiefeltern oder ledigen Vätern nicht beziehungsweise nur nach Abschluss komplizierter Verträge. Dazu sagt auch die Juristin, die ich befragt habe, etwas sehr spannendes: «Die Erwachsenen, die für ein Kind da sind, sollten auch rechtlich anerkannt werden.» Sei das mit einer vollen Elternschaft oder mit einer Art kleinem Sorgerecht, was es in Deutschland gibt. Noch wichtiger finde ich aber, dass die Vielfalt an Familienformen, wie sie hierzulande gelebt wird, auch in den Köpfen der Menschen ankommt. Dass den Menschen bewusst wird, wie viele verschiedene Möglichkeiten es gibt, Familie zu sein. Denn das erweitert auch den eigenen Handlungsspielraum, ganz egal wie der eigene Lebensentwurf aussieht. Und genau das möchte ich mit meinem Buch: den Familien-Horizont erweitern.

Über die Autorin Christina Caprez

Christina Caprez hat über Patchworkfamilien und Regenbogenfamilien geschrieben.Christina Caprez ist seit 2004 Redaktorin bei DRS 2. Sie studierte Soziologie, Ethnologie und Geschichte. Schon während des Studiums beschäftigte sie sich mit Familien hier und heute, früher und anderswo.

Auf die Idee ein Porträtbuch zu schreiben kam sie, weil sie selbst gern Porträtbücher liest.

Foto: Nicole Burgermeister

Das Buch «Familienbande»

«Familienbande» berichtet über Familien, die ganz unterschiedliche Wege gegangen sind, um Kinder gross zu ziehen. In 15 Porträts stellt Christina Caprez die unkonventionellen Familienformen vor. Sie erzählt von Schwulen und Lesben mit Kinderwunsch, von Teilzeit-Vätern, von Alleinerziehenden, von Familien, die sich in einem Wohnkollektiv organisieren, von Patchworkfamilien mit Kindern aus verschiedenen Beziehungen und von Pflegefamilien. Im Buch kommen auch drei Experten zu Wort: ein Historiker, eine Juristin und eine Psychologin. Sie liefern die Hintergründe zur Familienvielfalt.

Das Buch ist im Limmatverlag erschienen. Weitere Informationen unter www.limmatverlag.ch

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