Attachment Parenting: Wie viel Nähe braucht mein Kind?
Kinder brauchen Eltern, die ihnen Geborgenheit und Sicherheit vermitteln. Anhänger von Attachment Parenting lassen das Kind das Mass an körperlicher Nähe selbst bestimmen. Immer mehr Eltern begeistern sich für diesen Ansatz. Doch es gibt auch Kritik.
«Wie viel körperliche Nähe brauchen Kinder?», fragen sich Eltern. Anhänger von Attachment Parenting haben auf diese Frage eine einfache Antwort gefunden. Sie geben ihrem Kind genau die Wärme und Zuwendung, nach der es verlangt.
Der Ursprung von Attachment Parenting
Der Begriff Attachment Parenting stammt aus Amerika. Es waren der amerikanische Kinderarzt William Sears und seine Frau Martha, Eltern von acht Kindern, die diesen Weg der Erziehung erstmals unter diesem Begriff propagierten. In ihrem Buch «Das Attachment Parenting Buch. Babys pflegen und verstehen» aus dem Jahr 1985 erläutern sie ihre Idee von Erziehung durch Bindung.
Im Alltag bedeutet Attachment Parenting, dem Kind genau die körperliche Nähe zu bieten, nach der es verlangt. Es wird so lange gestillt, wie es gestillt werden möchte. Es wird im Tuch getragen, wenn es mit der Mutter oder dem Vater kuscheln möchte, statt die Welt auf eigenen Füssen zu erkunden. Und wenn es ihm wichtig ist, im Arm von Mama oder Papa einzuschlafen, dann darf es auch im Bett der Eltern übernachten.
Die Vorteile von Attachment Parenting
Durch die besondere Nähe und die Geborgenheit, die das Kind erfährt, wird eine besondere Bindung zwischen Kind und Eltern aufgebaut. Diese Bindung vermittelt ein Gefühl des Geborgenseins, das wie ein Schatz dem Kind ein ganzes Leben lang erhalten bleibt.
Attachment Parenting macht …
… glücklich:
Bei jeder zärtlichen Zuwendung, die ein Kind erfährt, werden Glückshormone ausgeschüttet. So wird das Kind auf Glücklichsein programmiert. Dieses Grundgefühl schenkt dem Kind ein Leben lang Ruhe, Sicherheit und damit Selbst-Sicherheit.
… klug:
«Sicherheit fördert die Hirnentwicklung», erklärt der Kinderarzt Cyril Lüdin, Spezialarzt für Kinder und Jugendliche FMH und verantwortlicher Pädiater am Bethesda Spital Basel. Der Mediziner hat in Muttenz eine eine eigene Praxis und hat sich zum Fachberater für Emotionelle Erste Hilfe EEH weitergebildet. Laut Lüdin kann ein Kind voller Vertrauen in sich und seine Umwelt selbstvergessen und konzentriert die Welt entdecken: Neues aufnehmen, Neues ausprobieren und neue Erfahrungen in seinem Hirn fest verankern. Dabei verschalten sich, vor allem in den ersten Lebensjahren, die Gehirnzellen rasant. Die miteinander verbundenen Gehirnzellen ermöglichen dem Baby immer besser, komplizierte Bewegungen zu steuern, erste Zusammenhänge und Regeln zu erkennen und daraus eigene logische Schlüsse zu ziehen und entsprechend zu handeln. Mit anderen Worten: Je sicherer und neugieriger ein Baby bzw. Kleinkind die Welt erforschen kann, umso grösser das Gehirnzellen-Netzwerk, auf das es in seinem Leben zurückgreifen kann. «Stress dagegen blockiert die Reifung des Gehirns», sagt Lüdin.
Attachment Parenting – (zu) anstrengend für Eltern?
Die Grundbedürfnisse nach körperlicher Zuwendung von Kindern zu erfüllen, ist also notwendig, damit Kinder sich gut entwickeln können. Doch in einem hohen Mass auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen, kann für Eltern sehr anstrengend werden.
Vor allem in Kleinfamilien, in denen oft nur ein Elternteil tagsüber für die Kleinen zuständig ist, brigt das Umsorgen der Kinder die Mutter oder den Vater leicht an die Grenzen der Belastbarkeit. «Eine Mutter kann nicht alles leisten», sagt Cyril Lüdin.
Das richtige Mass finden
In vielen Foren und Chatrooms verstehen Eltern Attachment Parenting als Aufforderung, möglichst rund um die Uhr geduldig für die Kinder da zu sein. Sie empfinden diese Aufforderung nicht als Ballast, sondern als Erleichterung. «Sears & Sears haben mit ihrer Definition des High-Need-Baby unglaublich Druck von mir genommen, als unsere grosse Tochter nicht schlafen und nicht essen wollte/konnte und die Welt fand, man müsse hart zu ihr sein», schreibt eine Mutter in einem Blog. «War ich nicht, stattdessen habe ich meine letzte feste Teilzeitstelle aufgegeben und halt freiberuflich vor allem nachts von zu Hause aus gearbeitet», so die Mutter weiter.
Doch nicht jede Mutter, nicht jeder Vater kann sich so viel Engagement leisten. Wenn es Eltern gelingt, grundsätzlich für eine sichere Bindung zu sorgen und sich das Kind allgemein geborgen fühlt, dann dürfen Eltern auch mal ungeduldig und genervt sein. Wichtig ist für Kinder die Gewissheit: Im Prinzip kann ich mich auf meine Eltern verlassen!
Attachment Parenting – wie lange?
Umstritten ist vor allem die Dauer der Fürsorge. Gehören Vierjährige noch ins Elternbett? Oder an Mamas Brust? Wer Kleinkinder noch stillt oder bei sich schlafen lässt, sieht sich oft herber Kritik ausgesetzt. «Doch wie lange ein Kind gestillt wird, ist allein Sache von Mutter und Kind», sagt Lüdin.
Und so ist es auch mit dem Elternbett: Solange sich die Familie mit ihrem gemeinsamen Lager wohl fühlt, sei nichts dagegen einzuwenden, so Lüdin. «Wenn Eltern ihr Kind mit ins Bett nehmen wollen, dürfen sie das. Wichtig ist aber auch zu wissen, dass sie es nicht müssen, wenn sie es nicht wollen.» Soll das Kind im eigenen Zimmer schlafen, müssen Eltern eben viel dafür tun, dass es sich dort sicher und geborgen fühlt.
Werden Kinder älter, gilt es zu prüfen, ob es die Eltern sind, die Nähe suchen oder ob das Kind den Körperkontakt sucht. Denn Eltern sollten ihren Nachwuchs nicht gegen seinen Willen an sich binden. Cyril Lüdin sagt dazu: «Wenn ein Kind beginnt zu robben, dann müssen Eltern loslassen.»
Buchtipp
Das Attachment Parenting Buch «Babys pflegen und verstehen» von William und Martha Sears, Tologo 2012.
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