Kind > Erziehung

Mutterschaft bereuen: Wenn Kinder nicht das höchste Glück sind

Kinder machen Freude und geben dem Leben Sinn – das ist die gängige Erwartungshaltung in unserer Gesellschaft. Doch es gibt Frauen, die anders empfinden, Frauen, die ihre Mutterschaft zutiefst bereuen. Die Gründe dafür sind vielfältig.

Nicht jede Mutter ist glücklich
Nicht jede ist glücklich: Etwa zehn Prozent der Mütter bereuen die Entscheidung zur Mutterschaft. Foto: KatarzynaBialasiewicz, iStock, Thinkstock

Frau Mundlos, Ihr Buch «Wenn Muttersein nicht glücklich macht» (mvg Verlag) ist in diesem Jahr bereits in der zweiten Auflage erschienen. Auch in der Presse wird das Phänomen «Regretting Motherhood» lebhaft diskutiert. Wie ist das relativ grosse gesellschaftliche Interesse an diesem Thema entstanden?

Christina Mundlos: «Kinder sind das höchste Glück!», so lautet das gängige Mutterbild. Im Frühjahr 2015 hat die israelische Soziologin Orna Donath diese gesellschaftliche Erwartung erstmals als Mythos entlarvt. Ihre Studie zeigte, was bis dahin als unmöglich galt: Es gibt viele Frauen, die das Muttersein zutiefst unglücklich macht!

Wie verbreitet ist das Gefühl unter Frauen, ihr Leben wäre ohne Kinder besser und erfüllter verlaufen?

Im Rahmen der Recherche für mein Buch habe ich Aufrufe im Internet und in sozialen Netzwerken gestartet, auf die sich überraschend viele Frauen gemeldet hatten. So habe ich in den vergangenen Jahren mit Hunderten von Müttern über ihre Unzufriedenheit mit der Mutterrolle gesprochen und konkret zum Thema «Regretting Motherhood» intensiv 50 Mütter befragt. Ich denke, dass etwa zehn Prozent der Mütter ihre Mutterschaft bereuen.

Wie stark ist der Leidensdruck unter den betroffenen Frauen ausgeprägt?

Die Gefühle der betroffenen Frauen sind nicht immer ganz klar, eher ambivalent. Oft sprechen sie von Reue, die sie aber im nächsten Satz relativieren. Es ist ja auch sehr schwer, sich selbst einzugestehen, lieber einen anderen Lebensweg eingeschlagen zu haben und damit das ganze Lebenskonzept in Frage zu stellen. Damit verbunden ist auch die Befürchtung, eine schlechte Mutter oder ein schlechter Mensch zu sein. Im Rahmen meiner Arbeit konnte ich beobachten, dass in den letzten 20 Jahren die Gruppe der Mütter, die sehr unzufrieden ist, immer grösser wird. Es gibt eine Verschiebung weg von der «glücklichen Seite» der Mutterschaft hin zu den negativen Gefühlen, die mit der Mutterschaft in Verbindung gebracht werden.

Sind die betroffenen Frauen denn Egoistinnen und Rabenmütter?

Nein, das sind sie nicht! Sie befinden sich in einer falschen Lebenssituation. Frauen, die ihre Mutterschaft bereuen, äussern vorwiegend, dass sie durch ihre Kinder und die damit verbundenen Aufgaben ihre Eigenständigkeit und Identifikation verloren haben.

Warum haben Frauen, die heute ihre Mutterschaft bereuen, überhaupt Kinder bekommen?

Eine Gruppe von Frauen hat früh, schon während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt, gespürt, dass sie für eine Mutterschaft eigentlich nicht bereit ist. Diese Frauen haben ihre Kinder aus einem gesellschaftlichen Druck heraus bekommen. Vor allem in ländlichen und konservativen Regionen ist das Muttersein ein Standard-Lebensentwurf, der gesellschaftlich erwartet und keinesfalls in Frage gestellt wird.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Mütter unter hohem Druck stehen …

Ja, Mütter stehen permanent in der Kritik, und das ständige Mäkeln und Infragestellen ist sogar gesellschaftlich akzeptiert. Dabei war zu keiner Zeit der Aufgabenkatalog, den Mütter zu erfüllen haben, derartig dicht, wie dies heute der Fall ist. Mütter müssen stillen und später nicht nur ihre Kinder zum Musikunterricht und Tanzen bringen, sondern auch die perfekte Piratenschifftorte backen können. Mütter müssen perfekt sein – doch was perfekt ist, darüber herrschen unterschiedliche Ansichten. Gleichgültig, ob Mütter ihre Kinder schon mit einem halben Jahr oder erst mit drei Jahren in der Kita anmelden, jeder darf sich einmischen – Freunde, Nachbarn, Wildfremde. Ein Teil der Frauen klagt darüber, zu wenig von ihrem Partner unterstützt zu werden. Es wundert nicht, dass Menschen, die permanent überfordert werden, letztendlich unglücklich und unzufrieden sind.

Wie gehen die betroffenen Frauen mit ihrem Leidensdruck um?

Manche Frauen schweigen ihr Leben lang. Es kostet ja grosse Überwindung, mit anderen darüber zu sprechen, als Mutter nicht glücklich zu sein. Und äussert eine Mutter, dass sie keine Freude an ihrem Alltag spürt oder zu viel Druck und überhöhte Anforderungen ihr das Leben schwer machen, gilt sie schnell als unnormal und krank. Bei diesem Thema sind nur wenige Menschen aufgeschlossen und verständnisvoll. Dabei würde das Reden helfen! Mich haben Mütter angerufen, die schon älter als 60 Jahre waren, um mir zu erzählen, dass sie seit Jahrzehnten fühlen, dass ihr Leben nicht ihr Leben ist. Jetzt, wo sie erfahren, dass es ihnen nicht alleine so ergeht, sind sie erleichtert. Sie verstehen, dass sie nichts Falsches fühlen.

Lieben Frauen, die ihre Mutterschaft bereuen, ihre Kinder – oder eher nicht?

Doch – sie lieben ihre Kinder! Niemals würden sie ihre Kinder hergeben! Könnten sie die Zeit zurückdrehen, würden sie sich zwar gegen Kinder entscheiden, wenn dies möglich wäre – aber nur, wenn sie ihre Kinder noch nicht kennen würden.

Was müsste sich Ihrer Ansicht nach gesellschaftlich verändern, damit Frauen das Muttersein leichter fällt?

Oh, eine ganze Menge! Die Kita-Gebühren müssten einheitlich so niedrig werden, dass sich die Arbeit der Frauen finanziell lohnt. Vorbild könnte das schwedische Modell sein, das einkommensorientiert Gebühren verlangt. Väter sollten auch in der Schweiz nach der Geburt mehrere Monate lang Urlaub nehmen können. Schwierig ist, dass die Vorteile des Ehegattensplittings wegfallen, wenn beide Eltern arbeiten. Deshalb ist es wichtig, das Ehegattensplitting durch finanzielle Leistungen für Kinder zu ersetzen. Und gleiche Gehälter von Männern und Frauen sollten gesetzlich verankert werden.

Mütter werden am Arbeitsplatz immer noch stark diskriminiert …

Ja, zu diesem Thema habe ich gerade mein nächstes Buch geschrieben. In diesem Rahmen haben sich auch Mütter aus der Schweiz bei mir gemeldet. Die Diskriminierung hängt mit der schwierigen Vereinbarkeit von Beruf und Familie zusammen, und auch mit dem schweren Wiedereinstieg. Das macht Mütter oft unglücklicher als sie sein müssten.

Christina Mundlos

Zur Person:

Die Soziologin und Germanistin Christina Mundlos hat sich in ihrem Studium auf Geschlechter- und Familienforschung spezialisiert. Als freiberufliche Autorin widmet sich die Mutter von zwei Kindern heute vor allem Gender- und Mütterthemen. Besonders wichtig ist ihr bei ihrer Arbeit, Tabu-Themen ans Tageslicht zu holen und Geschlechter-Ungerechtigkeiten zu bekämpfen. So setzt sie sich immer wieder dafür ein, dass Menschen nicht in Geschlechterschablonen gepresst und unterschiedliche Lebensentwürfe mehr akzeptiert werden.

Neueste Artikel

Beliebte Artikel