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Immer mehr Kinder brennen aus: «Gute Eltern-Kind-Beziehung ist ein Schutzfaktor»

Der neuste Bericht des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums schreckt auf: Der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die unter psychischen Krankheiten leiden oder gar einen Suidzid erwägen, ist stark gewachsen. Warum? Dagmar Pauli, Chefärztin an der Zürcher Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, spricht von Burnout, wenn sie die Entwicklung erklärt. Warum immer mehr Kinder ausbrennen und welche Rolle die Eltern dabei spielen. 

Junge Frau liegt deprimiert auf dem Rücken im Bett mit Handy in der Hand.
Social Media und ständige Erreichbarkeit als Stressfaktor: Kinder lernen im Netz ungesunde Problemlöse-Strategien. © GettyImages, martin-dm

Der aktuelle Obsan-Bericht des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums enthält eine Menge aufrüttelnder Zahlen: Rund 14 Prozent der jungen Frauen haben in den vergangenen Monaten erwogen, sich das Leben zu nehmen. 36 Prozent der jungen Frauen und 15 Prozent der jungen Männer haben schwere psychisch bedingte Symptome. 

Frau Pauli, solche Zahlen schrecken auf. War dies schon immer so oder ist die Anzahl psychisch kranker Kinder und Jugendlicher heute erschreckend hoch?

Dagmar Pauli: Aus internationalen Studien wissen wir schon lange, dass etwa jedes fünfte Kind psychische Probleme hat. Ungefähr jedes zehnte bis 20. Kind leidet sogar unter behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankungen. Die Zahl der Anmeldungen von belasteten Kindern und Jugendlichen in den Kliniken ist schweizweit – auch begünstigt durch Corona – dramatisch gestiegen. Die Wartezeit für ambulante Termine beläuft sich teilweise auf sechs bis neun Monate.

Druck, Stress, Belastungen in der Schule, zu wenig Zeit, kaum Möglichkeiten zu entspannen – das ist es, wovon junge Menschen sprechen, wenn sie zu uns kommen. Kurz gesagt: Es geht um Burn out.

Welche Diagnosen gibt es besonders häufig?

Immer häufiger treten Krankheitsbilder und Symptome wie Depressionen, Selbstverletzungen, Essstörungen, starke Ängste und Suizidalität, also Lebensmüdigkeit, auf. Dieser Anstieg betrifft junge Menschen mehr als ältere Menschen und junge Frauen mehr als junge Männer. 

Dagmar Pauli
© zvg

Dagmar Pauli leitet als stellvertretende Direktorin die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Besonders wichtig ist der 59-Jährigen in der therapeutischen Arbeit, die Ressourcen der Kinder, der Eltern und die des Umfeldes einzubeziehen und auszubauen.

Wo liegen die Ursachen für den immensen Leidensdruck der jungen Menschen?

Eine der Ursachen gilt als gute Nachricht: Menschen in allen Bevölkerungsgruppen fällt es zunehmend leichter, ein psychisches Problem zu erkennen, es zuzugeben und sich Hilfe zu holen.

Der Satz 'Was nicht sein darf, kann auch nicht sein' verliert also an Bedeutung?

Ja, psychische Probleme werden seltener hinter körperlichen Störungen versteckt als früher. Dies trifft für junge Menschen mehr zu als für ältere, weil sie ihre psychischen Probleme weniger als stigmatisierend erleben. Da haben Jahrzehnte der Aufklärung Wirkung gezeigt. Ich glaube aber, dass der Anstieg auch real ist und tatsächlich mehr junge Menschen psychisch belastet sind als noch vor einigen Jahren.

Worüber klagen Kinder und Jugendliche am meisten, wenn sie versuchen zu erklären, was sie unglücklich macht?

Druck, Stress, Belastungen in der Schule, zu wenig Zeit, kaum Möglichkeiten zu entspannen – das ist es, wovon junge Menschen sprechen, wenn sie zu uns kommen. Kurz gesagt: Es geht um Burn out. Auch Erwachsene erleben den Druck im Alltag als besonders stark. Der Stress der Eltern überträgt sich auf Kinder und Jugendliche.

Fehlt Kindern die Fähigkeit, Stress auszuhalten?

Eine geringe psychische Widerstandskraft gehört zu den Faktoren, die psychische Krankheiten begünstigen. Einige Kinder haben vielleicht weniger gelernt, Schwierigkeiten selbstständig zu bewältigen. Ihnen wurden Anforderungen oft aus dem Weg geräumt. Wenn sie dann auf die weiterführende Schule kommen und eigenständig funktionieren müssen, sind sie überfordert. Ich glaube aber nicht, dass Kinder und Jugendliche heute grundsätzlich weniger belastbar sind als frühere Generationen. Denn auch bei Erwachsenen nehmen psychische Probleme zu.

Welche Rolle spielen die Medien, wenn es um die psychische Gesundheit der Kinder geht?

Die Kinder und Jugendlichen, die heute therapeutische oder psychiatrische Hilfe brauchen, gehören zu der Generation, die mit der Bilderflut des Internets aufgewachsen sind. Ständig stehen sie unter dem Anspruch, auf Mitteilungen zu reagieren und sich selbst auf den sozialen Plattformen zu präsentieren. Dort werden sie von Influencer*innen beeinflusst, die ungesunde Vorbilder verkörpern – wie Schlankheit, Schönheit und Perfektionismus.

Die Ideale frustrieren, denn sie sind unerreichbar …

Ja, all dem können sich junge Menschen kaum entziehen. So lernen Kinder im Netz auch ungesunde Problemlöse-Strategien kennen – wie Diäten zur Selbstoptimierung oder Selbstverletzungen in Lebenskrisen. Es gibt genügend Studien, die zeigen, dass der übermässiger Medienkonsum psychische Störungen bei verletzlichen Jugendlichen begünstigt.

Eltern wünschen ihren Kindern, dass sie zäh und widerstandsfähig werden, damit sie Stress und Druck im Leben gut verkraften. Was können Eltern tun, damit ihre Kinder eine solche Widerstandskraft entwickeln?

In der Erziehung ist die Beziehung das A und O. Eine gute Beziehung ist ein Schutzfaktor für Kinder und Jugendliche – das zeigen alle Studien. Wichtig ist, mit ihnen von Anfang an bis ins Erwachsenenalter in Beziehung zu bleiben.

Wie entsteht eine solche Beziehung?

Eine gute Beziehung entwickelt sich, wenn Eltern neugierig und interessiert an dem sind, was das Kind erlebt, fühlt und braucht. Bei kleinen Kindern heisst das, auf ihre Bedürfnisse zu reagieren und zu merken, wie viel Fürsorge, aber auch wie viel Freiraum sie für eine eigenständige Entwicklung benötigen.

Wieviel Anleitung braucht ein Kind?

Kinder brauchen Freiraum, um sich zu entwickeln, aber sie brauchen auch Leitplanken! Ich rate Eltern zu klaren Regeln – bis ihr Kind zwölf oder 13 Jahre alt ist. Das heisst zum Beispiel, Handyzeiten zu vereinbaren, damit das Kind nicht zu viel am Smartphone hängt. Wird es älter, verlieren die Eltern allmählich an Kontrolle. Denn ein pubertierendes Kind will selbst bestimmen, wo es in seinem Leben langgeht. Wenn es gut vorbereitet ist, kommt es mit den Anforderungen an Selbstkontrolle schon besser zurecht.

Wie können Eltern ihrem Pubertier zur Seite stehen?

Bei Jugendlichen heisst das: Immer mal wieder nachfragen und im Gespräch bleiben – das macht eine Beziehung aus. Eltern sollten dabei offen sein für das, was das Kind berichtet – also ohne Vorurteile zuhören und gemeinsam die Situationen beleuchten. Mit vorschnellen Urteilen und Ratschlägen sollten sich Eltern dagegen zurückhalten – sie bringen schnell die Kommunikation zum Stocken. Wichtig ist auch, selbst ein gutes Vorbild zu sein, was zum Beispiel den Umgang mit Stress, den Medienkonsum und ein gesundes Freizeit- und Bewegungsverhalten betrifft.

Was können Eltern tun, wenn sie von ihrem Kind zurückgewiesen werden?

Eltern sind immer noch die wichtigsten Bezugspersonen für das Kind, selbst wenn es so tut, als wäre das nicht der Fall! Eltern brauchen sich daher nicht beirren lassen, wenn Pubertierende abwehrend reagieren. Am besten, sie warten den richtigen Moment für ein neues Beziehungsangebot ab.

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