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Was die Geschwisterkonstellation über den Charakter Ihres Kindes aussagt

Das älteste Kind ist schlau, das mittlere Kind ist frech und das Jüngste verwöhnt. Typisch, sagen Wissenschaftler. Die Geschwisterkonstellation kann die Entwicklung eines Kindes entscheidend prägen. Wie Eltern ihre Kinder, abhängig von ihrer Familienposition, besser fördern können.

Wie Geschwisterkonstellationen den Charakter eines Kindes prägen.
Jüngere Geschwisterkinder müssen sich oft mehr behaupten. Bild: Allen Taylor - Unsplash

Eltern staunen häufig, wie unterschiedlich ihre Kinder sind. Schliesslich behandeln sie alle ihre Kinder gleich, denken sie. Dabei übersehen viele Eltern, dass die Entwicklungsbedingungen für ihre Kinder ganz unterschiedlich sind. «Ein wesentlicher Faktor für die Entwicklung und das Selbstverständnis ist die Position in der Geschwisterreihe», erklärt die Kinder- und Jugendhilfe St. Gallen.

Denn je nachdem, ob ein Kind als ältestes, als eines der mittleren oder als Nesthäkchen aufwächst, erhält es einen anderen Platz in der Familie. «So wächst beispielsweise der erstgeborene Sohn, der täglich hört, dass er der Grosse ist, völlig anders auf als die kleine Schwester, die jahrelang «meine Kleine», «meine Süsse» genannt wird», erklären Birgit Gebauer-Sesterhenn, Anne Pulkkinen, Katrin Edelmann in ihrem Buch «Die ersten drei Jahre meines Kindes».

Dabei ist natürlich keine Familie und kein Kind gleich. Doch bestimmte Wesensmerkmale ähneln sich bei vergleichbaren Geschwisterkonstellationen immer wieder. Die Wissenschaft hat deshalb idealtypische Wesensmerkmale für verschiedene Geschwisterpositionen herausgearbeitet. Unterschieden wird in der Regel zwischen den Erstgeborenen, den Sandwichkindern und Nesthäckchen.

1. Geschwisterposition: Vernünftige Erstgeborene

Eine norwegische Langzeitstudie von Petter Kristensen und Tor Bjerkedal (2007) ergab, dass der bekannte Befund, nämlich, dasss ein grosser Teil der Erstgeborenen besonders intelligent sei, massgeblich durch die soziale Stellung der Erstgeborenen erklärt werden kann. Das Erstgeborene ist das einzige Kind in der Familie, das die Zuneigung seiner Eltern zu Beginn seines Lebens nicht mit Geschwistern teilen muss. Die Eltern haben häufig viel Zeit, mit ihm zu spielen, zu singen, zu puzzeln und Bauklötze übereinander zu stapeln. Jedenfalls mehr Zeit, als sie es später bei ihren weiteren Kindern haben werden. Das Erstgeborene geniesse deshalb zu Beginn seines Lebens eine besondere Förderung.

Viele Eltern erleben die Entwicklung ihres Erstgeborenen auch häufig intensiver als bei den jüngeren Geschwistern, weil das Leben mit Kind für sie eine grundlegend neue Erfahrung ist. Sie beobachten das Erstgeborene genau und registrieren jeden Entwicklungsschritt. Dadurch erfährt es schon früh die Wertschätzung, die es ihm später ermöglicht, ein starkes Selbstwertgefühl aufzubauen. Gleichzeitig steht es unter einer besonderen Kontrolle – und damit unter mehr Leistungsdruck als seine späteren Geschwister. Viele Erstgeborene wachsen deshalb tendenziell zu perfektionistischen Persönlichkeiten heran.

Kommen Geschwister hinzu, wird von Erstgeborenen häufig verlangt, sich um sie zu kümmern. «Sie werden vernünftiger, weil sie früh Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister übernehmen müssen», stellte der Psychologe Frank J. Sulloway von der kanadischen Universität Berkeley fest. Oft fungieren sie auch als Vorbild. «Indem sie ihr Wissen weitergeben, schlüpfen sie in eine Art «Lehrerrolle», schreiben Gebauer-Sesterhenn, Pulkkinen und Edelmann. «Man vermutet, dass dies der Grund ist, warum Erstgeborene oft erfolgreicher im Beruf sind als die nachfolgenden Geschwister. Sie haben unter anderem gelernt, ihre Mitmenschen zu führen, Verantwortung zu übernehmen und andere etwas lehren zu können.»

Tipps für Eltern

«Erstgeborene benötigen Verständnis für ihre Enttäuschung, nicht mehr das einzige Kind zu sein. Es ist wichtig, ihnen immer wieder zu zeigen, dass ihnen der Platz als Ältestes nie streitig gemacht wird», rät die Kinder- und Jugendhilfe St. Gallen. Eltern täten auch gut daran, von ihren Erstgeborenen nicht zu viel zu erwarten. Kinder müssen nicht perfekt sein – sie haben wie jeder Mensch individuelle Stärken und Schwächen. Darüber hinaus sollten Eltern ihre Erstgeborenen möglichst selten als Aufpasser einsetzen, um die Beziehung zu den jüngeren Geschwistern nicht zu stören.

2. Geschwisterposition: Diplomatische Sandwichkinder

Weil das mittlere Kind (oder die mittleren Kinder) zwischen dem ältesten und dem jüngsten Kind liegt, wird es auch «Sandwich-Kind» genannt. Trotzdem steht es selten im Mittelpunkt. Fast immer muss es die Aufmerksamkeit der Eltern teilen – entweder mit dem älteren oder mit dem jüngeren Geschwisterkind. «In einer britischen Studie fühlten sich fast 50 Prozent der Sandwich-Kinder benachteiligt und gaben an, um die Aufmerksamkeit ihrer Eltern kämpfen zu müssen», schreiben Gebauer-Sesterhenn, Pulkkinen und Edelmann. Das Selbstwertgefühl des Sandwich-Kindes entwickele sich dadurch nicht immer optimal. «Es hat weder die Privilegien des Älteren noch die des Jüngsten», so die Kinder- und Jugendhilfe St. Gallen. Wie Sandwichkinder mit dieser Geschwisterkonstellation umgehen, ist jedoch nicht ausgemacht. Manche Kinder zeigen sich besonders laut, frech oder humorvoll, um auf andere Wege mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Andere erweisen sich dagegen als besonders anpassugsfähig und kompromissbereit.

Gleichzeitig hat das Sandwich-Kind eine besondere Entwicklungs-Chance. «Durch seine Position in der Familie lernt es, sich durch Diplomatie zu behaupten», glauben Gebauer-Sesterhenn, Pulkkinen Edelmann. Deshalb seien mittlere Geschwister im Freundeskreis oft besonders beliebt. «Das Kind dazwischen kann oft besser als das älteste oder das jüngste Kind seinen eigenen Weg gehen», schreibt auch Heidi Hess in der Aargauer Zeitung in einem Beitrag zu Geschwisterpositionen.

Tipps für Eltern

«Bei mittleren Kindern besteht die Gefahr, dass sie übersehen werden», warnt die Kinder- und Jugendhilfe St. Gallen «Deshalb sind Eltern gerade bei diesen Kindern herausgefordert, sie bewusst wahrzunehmen.» Ganz besonders wichtig seien für die Kinder mit mittlerer Geschwisterposition weitere Erwachsene im familiären Umfeld, insbesondere Grosseltern und Paten. Eltern sollten diese Kontakte aktiv unterstützen.

3. Geschwisterposition: Charmante Nesthäkchen

Das Nesthäkchen, das jüngste der Geschwister, gilt als verwöhnt. Für die Eltern bleibt das Kleinste klein – und zwar ein Leben lang. Zufolge einer australischen Studie der Technischen Universität in Swinburne, schätzen Mütter das Nesthäkchen sogar kleiner und damit wohl auch jünger ein, als es tatsächlich ist. Als Kleinstes kann es sich deshalb oft mehr Nachsicht von den Eltern erhoffen. Die sind jetzt ohnehin meist nicht mehr so streng, wie sie einst mit dem Erstgeborenen waren – der Alltag mit Kind ist längst selbstverständlich und sie selbst sind in Erziehungsfragen entspannter geworden.

Beim jüngeren Kind besteht nicht nur die Gefahr, dass es in der Rolle des Nesthäkchens belassen und damit unterfordert wird, der ständige Vergeich mit seinen älteren Geschwistern kann auch überfordern: «Das jüngste Kind erlebt Geschwister, die schon mehr können. Es entwickelt sich oft schneller, weil es ihnen nacheifert. Das Nacheifern birgt jedoch das Risiko, nie den Entwicklungsstand der Älteren zu erreichen und dadurch entmutig zu werden», so Kinder- und Jugendhilfe St. Gallen.

Tipps für Eltern

«Wichtig ist, die individuellen Fähigkeiten der nachfolgenden Kinder zu entdecken und sie auf ihrem Weg zu unterstützen», so die Kinder- und Jugendhilfe St. Gallen. Auch zu viel Freiraum und Augenzudrücken tue Nesthäkchen nicht gut. Sie brauchen – ebenso wie die älteren Kinder – Grenzen, damit sie sich gut entwickeln können.

Die Geschwisterkonstellation ist kein unausweichliches Schicksal

«Die ersten werden auf Gradlinigkeit getrimmt, die mittleren auf das Lavieren und die Jüngsten auf Selbstverwirklichung», fasst Bernd Beuscher in seinem Buch «Set me free» die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung zum Thema Geschwisterkonstellationen zusammen. Sich solche Tendenzen bewusst zu machen, sei durchaus sinnvoll. Dennoch ist es wichtig zu wissen, dass sich unterschiedliche Wesenszüge aufgrund der Geschwisterpositionen nicht zwangsläufig einstellen. Entscheidend für den Platz, den Kinder in ihrer Familie finden, sind nämlich nicht nur die Geschwisterpositionen, sondern eine Reihe weiterer Faktoren wie zum Beispiel das Geschlecht, der Altersunterschied und die Art und Weise, wie Eltern mit ihren Kindern umgehen.

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