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«45 Minuten Stress ist schädlicher als eine kleine Verspätung»

Iss bitte jetzt dein Müesli fertig, dann rasch Zähneputzen und Anziehen, sonst kommen wir zu spät! Im Familienalltag muss vieles schnell gehen. Muss es wirklich? Julia Dibbern und Nicola Schmidt, Autorinnen des Buches «Slow Family», erklären im Interview, wie achtsam leben das Familienleben positiv verändern kann.

Schnellstarter
Bild: Julia Raasch - Unsplash

Der Stress beginnt oft schon in aller Frühe. Warum hetzen wir uns und unsere Kinder schon beim Frühstück, warum rennen wir zum Bus oder zur Kita?
Nicola Schmidt: Unserer Beobachtung nach gibt es zwei Arten von Zwang, der uns zur Eile antreibt. Das eine ist der innere Zwang, die innere Stimme die vorgibt, die Regel des Kindergartens, dass alle Kinder um viertel vor acht da sein sollen, sei wichtiger als die gute Beziehung zwischen Eltern und Kind. Das andere ist der äussere Zwang. Busabfahrtszeiten, Zugzeiten, Öffnungszeiten oder Kursanfangszeiten sind Umstände, an denen wir nichts ändern können. Wir können aber unseren Umgang damit ändern, uns nicht mehr stressen lassen und achtsam leben.

Wie meinen Sie das?
Julia Dibbern: Eltern müssen sich bewusst machen, dass 45 Minuten «Jetzt macht endlich!»-Sagen für die Beziehung wahrscheinlich schädlicher sind als zehn Minuten zu spät beim Puppentheater anzukommen. Wir sind also dafür, im Zweifelsfall lieber den Bus zu verpassen.
Nicola Schmidt: Ich stelle mir immer vor, was Kinder später von ihrer Kindheit erzählen werden. «Meine Eltern haben uns überall hin gehetzt, das war stressig, ich habe Losgehen gehasst …» Oder sagen sie: «Na ja, wir waren nicht immer pünktlich, aber wir sind immer entspannt, singend und glücklich umhergezogen.»

Eltern müssen also langsamer werden und achtsamer leben?
Nicola Schmidt: Ja, es ist sogar höchste Zeit, langsamer zu werden. Sonst verpassen wir noch die besten Jahre mit unseren Kindern. Das ist Zeit, die wir nie wieder zurück holen können!

Langsamer zu leben kann aber zusätzlichen Stress nach sich ziehen, weil man sich den Rest des Tages noch mehr beeilen muss, um gleich viel zu erreichen.
Julia Dibbern:
Wir entscheiden, wohin wir unsere Lebenskutsche lenken. Wir können zum Beispiel entscheiden, ob wir mehr Dinge haben wollen, oder ob wir besser leben wollen. Langsam erreichen wir besser, was wir uns vornehmen. Einfach deswegen, weil wir achtsamere Entscheidungen treffen. Darüber hinaus wirkt der Satz «Ich nehme mir die Zeit» viel weiter. Wir schaffen damit mehr Raum und Ruhe für unsere Beziehungen, unsere Ehe oder Partnerschaft und unsere Gesundheit.

Wo finden Eltern Zeit für Langsamkeit?
Nicola Schmidt: Zeit ist da, man muss sie sich nur nehmen. Konkret kann das heissen: Grosszügig planen, zum Beispiel immer einen Bus, einen Zug früher einplanen. Flexibel bleiben, zum Beispiel Freunde, mit denen man verabredet ist, anrufen und sagen, dass es später wird. Nicht ablenken lassen, denn es ist nicht wichtig, noch schnell in den Briefkasten oder in die Mails zu schauen. Nicht perfekt sein wollen. Was nicht im Gepäck ist, ist eben nicht dabei. Und wenn die Haare des Kindes nicht gekämmt sind, geht die Welt auch nicht unter.
Julia Dibbern: Vieles, was notwendig erscheint, ist gar nicht notwendig. Eltern sollten sich jedes Mal, wenn sie die Kinder hetzen, fragen: «Ist das wirklich nötig?»

Welche Aktivitäten und Pflichten sind nicht wichtig und lassen sich getrost loslassen?
Nicola Schmidt: Na – Putzen steht bei mir ganz oben auf dieser Liste! Meine Kinder baden auch nicht zwei Mal pro Woche und haben keine 25 Hobbys. Dafür spielen, kuscheln und faulenzen wir nach der Schule und dem Kindergarten und am Wochenende gerne.
Julia Dibbern: Letztlich muss jede Familie ihre Prioritäten setzen. Wir müssen uns nur klar darüber sein, dass wir nur an einem Ort gleichzeitig sein können.

Was ist wirklich wichtig?
Julia Dibbern: Abraham Maslow, einer der Gründerväter der humanistischen Psychologie, zeigte in seiner Bedürfnispyramide, was nach seiner Ansicht wirklich wesentlich ist für Menschen: Am Wichtigsten ist es, satt zu sein und schlafen zu können wenn man müde ist. Dann kommt der Wunsch nach Sicherheit, gefolgt von dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Freundschaften. Erst wenn diese Bedürfnisse erfüllt sind, sehnen sich Menschen nach Anerkennung und Erfolg – und nach Selbstverwirklichung. Im Familienalltag kann es sehr helfen, diese Bedürfnispyramide im Hinterkopf zu haben.
Nicola Schmidt: Sie zeigt zum Beispiel, dass es keinen Sinn macht, mit einem hungrigen Kind zu diskutieren. Und sie zeigt auch, dass es wichtiger ist, miteinander zu spielen als Spielzeug zu kaufen. Jeder Tag ist der erste vom Rest unseres Lebens. Wenn uns das bewusst wird, haben wir plötzlich unendlich Zeit – für diesen einen Moment. Das ist für uns achtsam leben – Slow Family.

Haben Sie konkrete Vorschläge, was man als «slow family» machen kann?
Julia Dibbern: Mit den Kindern durch den Wald zu streifen macht Spass. Ebenso zelten, im Matsch spielen, Feste feiern, mit den Nachbarn am Feuer zu sitzen und Stockbrot backen. Es ist häufig die ressourcenarme, technikarme, ruhigere Verhaltensalternative, die für Menschen und den Planeten von Vorteil ist. Und unsere Kinder lernen, Dinge zu tun, durch die sich die Welt gut entwickelt.

Zu den Personen

Die Autorinnen Julia Dibbern (l) und Nicola Schmidt
Die Autorinnen Julia Dibbern (links) und Nicola Schmidt. (Bild: pd)

Julia Dibbern ist Fachjournalistin mit den Schwerpunkten Nachhaltigkeit und Familie. Sie hält Vorträge zu den Themen Eltern-Kind-Bindung und naturnaher Umgang. In ihren Sachbüchern und Vorträgen spannt sie den Bogen zwischen Familienleben und Planetenglück.

Wissenschaftsjournalistin und Stillberaterin Nicola Schmidt recherchiert seit 2008, was «artgerecht» für menschliche Babys und Kleinkinder ist, und gibt dieses Wissen seit 2010 in Camps, Ausbildungskursen und Workshops an Eltern und Fachpersonal weiter. Vor allem hat sie sich auf die Themenbereiche «Emotionelle Erste Hilfe» und «Infant Mental Health» bei Babys und Kleinkindern spezialisiert.

Buchtipp

Buchcover «Slow Family»

«Slow Family. Sieben Zutaten für ein einfaches Leben mit Kindern», Julia Dibbern und Nicola Schmid, Beltz Verlag 2016. «Überall, wo Kinder in die Welt aufbrechen, gibt es Alternativen zu einem Leben, das immer schneller, technischer und komplizierter wird. In diesem Buch zeigen Julia Dibbern und Nicola Schmidt, wie Eltern und Kinder ihre Bedürfnisse nach Nähe, Natur und Langsamkeit gemeinsam ausleben können», beschreibt der Verlag das Buch.
 

 

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