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Schulische Integration Behinderter: «Wir müssen mutig sein»

Wenn immer möglich sollen Kinder mit Behinderungen in die Regelschule integriert werden. Das stellt Schulen vor eine grosse Herausforderung. Professor Peter Lienhard-Tuggener von der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich erklärt, warum die schulische Integration eine gute Lösung ist und wie sie gelingen kann.

Die schulische Integration Behinderter kann gelingen.
Schulische Integration von Kindern mit einer Behinderung ist laut Peter Lienhard-Tuggener nur möglich, wenn nicht alle zu gleichen Zeit Dasselbe machen. Foto: George Doyle,  Stockbyte, Thinkstock

Herr Lienhard-Tuggener, Sie waren in vielen Ländern unterwegs und haben sich angeschaut, wie die Integration behinderter Kinder gelingt. Was hat Sie besonders beeindruckt?

In Neuseeland fand ich es genial, dass die Kinder an unterschiedlichen Tagen eingeschult werden. Wenn das Kind fünf Jahre alt ist, geht es am nächsten Tag in die Schule. So kommen ständig neue Kinder in die altersdurchmischten Gruppen. Die neuen lernen von den anderen Kindern. Das gilt auch für behinderte Kinder. Es gibt zudem behinderungsspezifische Dienste und zusätzliches Personal.

Wenn aber jedes Kind zu einem anderen Zeitpunkt eingeschult wird, wird es schwierig für die Lehrer dem Lehrplan zu folgen, weil jeder auf einem anderen Niveau ist.

Es ist schwierig, wenn ich die Vorstellung habe, mit allen zur gleichen Zeit das Gleiche zu machen. Statt dessen gibt es verschiedene Lerngruppen. Ich war dabei, als einige Kinder gerade die Texte der anderen kritisierten. Währenddessen arbeiteten andere an ihrem individuellen Wochenplan und einige Kinder hörten der Lehrerin zu, die ein neues Thema einführte. Dafür braucht es eine ganz andere Art der Organisation der Pädagogik. Jedes Kind hat ein Portfolio, das es bis zu einer bestimmten Frist erledigen muss.

Wie weit sind wir in der Schweiz auf dem Weg zur schulischen Integration?

Einige Schulen sind schon seit den 70er Jahren auf dem Weg sich eine Kultur der Integration aufzubauen. In anderen Schulen gibt es immer noch die gleiche Vorstellung von Schule wie 1967, als ich in die Schule ging.

Welche Vorstellung meinen Sie?

Manche haben die Vorstellung, dass alle Kinder mit den gleichen Voraussetzungen kommen und sie das Gleiche mit ihnen machen können. Wenn Kinder in den Kindergarten kommen, haben sie aber unterschiedliche Kompetenzen. Die Kunst ist, die gemeinsame und die individuelle Förderung unter einen Hut zu bringen.

Was heisst das?

Ich muss innerhalb eines gemeinsamen Themas Tätigkeiten auf verschiedenen Niveaus anbieten. Wenn ich in die Schulzimmer schaue, ist es aber häufig so, dass alle zur gleichen Zeit Dasselbe machen, obwohl sie einen ganz unterschiedlichen Wissensstand haben. Da hole ich die Begabten und die Kinder mit Lernschwächen nicht ab. Ich kann sogar Schulversager produzieren. Das führt dazu, dass viele Kinder nicht mehr in diese Schule passen.

Welchen Weg der integrativen Schule schlagen Sie vor?

Es ist eine Schule, die das Lernen differenziert. Ich kann die Kinder nicht homogenisieren. Ich muss sie nehmen, wie sie kommen. So werde ich am ehesten allen gerecht. Ich würde altersdurchmischte Gruppen vorschlagen. Dann ist es normaler, dass Kinder einen unterschiedlichen Wissensstand haben. Ich brauche dafür aber zusätzliches Personal. In Neuseeland habe ich keine Klasse gesehen, in der nicht noch eine Schulhilfe, eine zweite Lehrperson oder eine Heilpädagogin dabei war. Diese Ressourcen braucht die integrative Schule.

Woher sollen die Ressourcen kommen?

Wir haben in der Schweiz ein stark ausdifferenziertes Sonderschulsystem. Dort sind viele Gelder gebunden. Wir können uns nicht zwei voll ausgebaute Systeme leisten. Da braucht es eine Umlagerung. Ein guter Teil Sonderschulplätze sollte reduziert werden. Das ist ja eigentlich nur logisch, wenn vermehrt integriert wird. In der Übergangsphase braucht es aber mehr Geld, weil dann zwei Systeme parallel laufen müssen.

Spüren Sie Offenheit dafür?

Auf breiter Basis eher weniger. Sogar weniger als noch vor fünf Jahren.

Woran liegt das?

In der öffentlichen Debatte ist es zunehmend in Ordnung, die Integration abzulehnen, obwohl wir einen gesetzlichen Auftrag haben. Wir haben das Behindertengleichstellungsgesetz, in dem steht: Wenn immer möglich, soll der integrative Weg favorisiert werden.

Können Sie Kritiker verstehen, die sagen, die integrative Schule sei zu schwierig?

Ich verstehe es, wenn die Regelschule wirklich nicht die Ressourcen bekommt. Wenn der Lehrer mit Kindern mit geistiger Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten allein in der Klasse steht, vielleicht zwei bis drei Stunden eine Heilpädagogin zu Seite hat, dann geht das nicht.

Deshalb sagen manche das Modell sei zu teuer, wenn es richtig gemacht würde.

Das ist es eben nur, wenn man zwei teure Systeme nebeneinander hat.

Und was ist mit dem Kritikpunkt, dass behinderte Kinder in der Sonderschule besser gefördert werden können als in der Regelschule?

Ich habe Dario, einen Schüler der vierten Klasse in einem Schweizer Bergdorf kennen gelernt. Er hat das Down-Syndrom und war trotzdem in einer Regelklasse. Er war gerade dabei die Buchstaben zu lernen. Vielleicht hätte er in der Sonderschule das Lesen rascher gelernt. Aber mir stellt sich die Frage: Was ist eigentlich das Ziel der Bildung? Ich habe ihn beim Tanzen mit seinen Kameraden gesehen. Er hat von ihnen gelernt, auch viele Verhaltensregeln und Alltagskompetenzen, einfach durch Abschauen und Mitmachen. Das kann eine Sonderschule gar nicht bieten. Dennoch haben sich die Eltern dafür entschieden, Dario nach der Primarschule auf eine Sonderschule gehen zu lassen.

Ist die Integration dann nicht gescheitert?

Nein. Ich will Ihnen ein anderes Beispiel geben. In Schweden am Gymnasium lernen Jugendliche mit Behinderung in extra Klassen, aber sie bleiben im gleichen Haus wie die anderen. Die Schulen schauen, wo Integration noch möglich ist: zum Beispiel bei gemeinsamen Theaterproben, beim Essen in der gemeinsamen Mensa. Diese Unverkrampftheit würde ich mir auch hier in der Schweiz wünschen. Wenn wir einmal ja zur Integration gesagt haben, müssen wir diese nicht stur durchziehen, sondern im Einzelfall schauen, was das Beste für das Kind ist. Wir müssen aber den Mut zur grösstmöglichen Integration haben.

Peter Lienhard-Tuggener setzt sich für die schulische Integration ein.

Peter Lienhard-Tuggener ist Professor an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich. Der Ausgebildete Primarlehrer, Sonderpädagoge und Psychologe hat 2011 zusammen mit Klaus Joller-Graf und Belinda Mettauer Szaday das «Rezeptbuch schulische Integration. Auf dem Weg zu einer inklusiven Schule» veröffentlicht. Es zeigt, wie ein Unterricht aussieht, der möglichst allen Schülern gerecht wird. Foto: Thomas Burla

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